Dieter Landgraf

Sandras Rache


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blickt sie sich um, als würde sie etwas suchen.

      Alejandro bemerkt es und fragt belustigt: „Ist dir etwas abhanden gekommen?“

      Cornelia Nicolai lacht laut auf und bemerkt amüsiert: „Das nicht … aber ich habe gerade die Heizkörper gesucht … ist das nicht komisch?“

      Auch Alejandro muss lachen und sagt: „Hier brauchen wir eher eine Klimaanlage und keine Heizgeräte.“

      „Ich bin noch nicht einmal einen ganzen Tag in Kolumbien … und so viele neue Eindrücke … die muss ich erst einmal verarbeiten“, sagt sie, immer noch mit einem Lächeln im Gesicht.

      „Jetzt zeige ich dir aber endlich das Schönste von der ganzen Wohnung … die Ansicht von Medellin am Abend“, bemerkt Alejandro und nimmt sie an die Hand.

      Unbemerkt von Cornelia Nicolai wurde es inzwischen stockdunkel. Beide treten auf den Balkon und völlig verzückt von dem Anblick auf die Stadt flüstert sie: „Das ist ja ein einziges Lichtermeer … so etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.“

      Alejandro legt sanft den Arm um ihre Schultern und versichert ihr: „Es wird nicht der letzte Abend sein, an dem wir auf die Stadt herunterschauen … ich will hoffen, dass es noch viele, viele Jahre so sein wird.“

      Zum ersten Mal folgt auf die Worte ein langer und inniger Kuss. Auf die Bitte von ihr schlafen sie in dieser Nacht in getrennten Zimmern. Cornelia Nicolai empfindet für Alejandro mehr als nur Sympathie. Sie ist sich nur noch nicht sicher, ob es auch die große Liebe ist. Obwohl sie müde und kaputt ist, findet sie lange Zeit nicht in den Schlaf. Ihr ist bewusst, dass sie das neue Leben mit einer Lüge aufbaut. Doch wie würde Alejandro darauf reagieren, wenn sie sich als eine Mörderin zu erkennen gibt. Sie weiß es nicht. Im Gefängnis waren die Überlegungen über einen Neuanfang viel leichter, als hier im wirklichen Leben. Ihr weibliches Gespür sagt ihr, dass dieser Mann sie sehr gern hat. Auch deshalb fällt es ihr schwer, ihm die Wahrheit über ihre dunkle Vergangenheit zu sagen. Schließlich beseitigt sie alle ihre Zweifel mit der Überlegung, dass sie in diesem Land eine völlig Unbekannte ist und niemand ein Recht darauf hat, etwas über ihre Vergangenheit zu wissen. Sie hat aus ihrer schweren Verfehlung gelernt und würde nie wieder solch eine schlimme Tat begehen. Mit diesen Gedanken schläft sie dann irgendwann in den frühen Morgenstunden ein.

      Beim Frühstück fragt sie: „Du hast mir versprochen, mich in den ersten Wochen immer zu begleiten … bekommst du so einfach frei … nur weil ich jetzt hier bin?“

      „Ich habe ausreichend vorgearbeitet … als Projektleiter der

      Messegesellschaft Plaza Mayor bin ich für die Mode- und Textilmesse verantwortlich … und die findet erst in einem halben Jahr statt … so habe ich problemlos den Urlaub genehmigt bekommen.“

      Die nächsten Tage sind ausgefüllt mit ausgedehnten Einkaufstouren. Cornelia Nicolai braucht so gut wie Alles. Was sie in der Reisetasche mitgeführt hat, wandert in den Müll. Es sind alles Kleidungsstücke, die für das Klima in Medellin nicht geeignet sind. Sie lernt auf diese Weise die Stadt kennen und verliebt sich nicht nur in diese, sondern auch in Alejandro. Schon in der dritten Nacht haben sie ein gemeinsames Bett und Cornelia Nicolai lernt das südamerikanische Temperament von Alejandro ausgiebig kennen. Es sind wunderschöne glückliche Tage für beide. Alejandro zeigt ihr die Seilbahn, die die höher gelegenen Wohnviertel – für die Einheimischen sind es die Favelas – mit dem Zentrum im Tal verbindet. Auch die wohl längste Rolltreppe der Welt mit ungefähr vierhundert Metern fasziniert Cornelia Nicolai. In den Gebieten, wo in früheren Jahren tiefste Armut herrschte, sind heute Bibliotheken eingerichtet und die Bewohner sind nicht mehr abgeschnitten vom pulsierenden Leben der Metropole. So langsam begreift sie, warum Alejandro von Medellin als der innovativsten Stadt der Welt spricht. Das eindruckvollste Erlebnis steht ihr noch bevor. Geheimnisvoll sagt Alejandro eines Morgens: „Heute fahren wir ins Zentrum … der Willy bleibt hier … die U-Bahn ist bequemer und wir vergeuden keine Zeit mit dem ewigen Suchen nach einem Parkplatz … es wird für dich ein ganz besonderes Erlebnis werden … alles andere sollte mich wundern.“

      „Ins Zentrum … aber ich habe doch bereits alles neu, Kleidung, Schuhe, Kosmetik … was wollen wir denn dort?“, fragt sie leicht irritiert, weil sie sich unter dem Begriff Zentrum eine Einkaufsmeile vorstellt.

      „Nein, nein, einkaufen gehen wir heute nicht … ich möchte dir gerne unseren schönsten Platz zeigen, den Plaza de las Esculturas … wir sagen der Einfachheit halber nur Plaza Botero.“

      „Bisher waren deine Ideen stets ein Volltreffer … wie soll es da heute anders sein“, sagt sie lächelnd.

      Mit der vollgestopften U-Bahn sind sie in kurzer Zeit im Zentrum angelangt.

      „Hier ist ja ein Lärm … dagegen geht es in unserer Wohngegend richtig geräuschlos zu … und ich dachte bisher, dass es schon bei uns wahnsinnig laut wäre.“

      „Das hat etwas mit unserer Lebenslust und Lebensfreude zu tun … vielleicht ist die Sonne und der immer währende Frühling schuld“, bemerkt er belustigt über ihre Wahrnehmung.

      „Schau einmal … dort sind ja riesige Skulpturen“, ruft sie aus, als sie aus der Unterführung der U-Bahn am Eingang des Platzes stehen.

      „Das sind Kunstwerke von Fernando Botero … er ist hier in Medellin geboren und hat sie der Stadt geschenkt … nicht jeder Künstler ist so spendierfreudig … deshalb heißt der Platz auch Plaza Botero … übrigens … seine Werke stehen auch in Mailand, Berlin und vielen anderen Städten dieser Welt.“

      „Bei ihm sehen die Frauen aber ganz schön proper aus“, bemerkt sie, als sie vor einer solchen Bronzestatue stehen.

      „Ja, so ist das Leben … er verbindet großartig die Üppigkeit zur Sinnlichkeit … das ist eben seine Kunst, das wirkliche Leben darzustellen.“

      Als sie sich wegen dieser Bemerkung die Frauen um sich herum anschaut, muss sie ihm Recht geben. Da versucht keine, ihre kleinen Pölsterchen zu verstecken. Im Gegenteil, viele der opulenten Kolumbianerinnen haben enge T- Shirts an, so als wollten sie damit absichtlich auf ihre Formen aufmerksam machen.

      „Wie wäre es denn mit einem Eisbecher … auf der anderen Seite des Platzes befindet sich ein schönes Cafe … dort sitzen wir etwas erhöht und können dem Treiben auf dem Platz in Ruhe zusehen … und das Juan Valdez Cafe wolltest du doch schon bei unserer Fahrt von Bogota nach Medellin kennenlernen.“

      Freudig willigt sie in das Angebot ein. Vom vielen Laufen schmerzen ihr die Füße und unter der gleißenden Sonne mitten auf dem Platz ist es inzwischen ziemlich warm geworden. Zum Glück liegt die Terrasse des Cafes im Schatten.

      Die Eiskarte ist umfangreich. Ein wenig ratlos blättert sie und kann sich nicht entscheiden. Es sieht alles einfach verführerisch aus. Alejandro bemerkt ihre Unentschlossenheit und fragt: „Soll ich dir eine Empfehlung geben … probiere doch einmal den Tropical Eisbecher … da sind alle Früchte enthalten, die es bei uns gibt … zum Beispiel Curuba und Cherimoya, die vielleicht in Europa nicht so bekannt sind … auf alle Fälle kannst du damit nichts falsch machen.“

      Als der Eisbecher vor ihr steht bemerkt sie lachend: „Das reicht doch für eine ganze Woche“, und nach den ersten Kostproben fährt sie fort, „du hast Recht … es schmeckt einfach köstlich.“

      Beide schauen auf das Geschehen vor ihnen auf dem Platz. Jede der dreiundzwanzig Skulpturen ist von einer Menschenmenge förmlich umlagert und es werden fleißig Erinnerungsfotos gemacht. Mit einem Male äußert sich Cornelia Nicolai: „Jetzt habe ich aber genug gefaulenzt … wir sollten mein kleines Cafe und das Hotel in Angriff nehmen … vor allem, bevor ich mein ganzes Geld verjubelt habe.“

      Mit ernster Mine antwortet Alejandro: „Ganz so einfach geht das nicht … dein Visum für Kolumbien läuft in zwei Monaten ab … du musst dich entscheiden … entweder für immer hier zu bleiben oder wieder zurück in deine Heimat zu fahren … wenn du bleiben möchtest, dann ist eine Heirat unausbleiblich.“

      „Ich weiß doch gar nicht, ob du mich auch heiraten willst … gesagt hast du es