Dieter Landgraf

Sandras Rache


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kommt sie wieder zu Alejandro und sagt etwas ratlos: „Anke nimmt den Hörer nicht ab … doch ich habe ihr etwas geschrieben … sie wird schon zurückrufen.“

      Den Grund, dass sie ihre Freundin telefonisch nicht erreicht, kann sie nicht wissen. Anke Falk ist nach Erhalt von der Nachricht vom Tod ihres Ehemannes für ein paar Tage zu ihrer Tochter gefahren. Den Schmerz um den Verlust von ihrem geliebten Andreas konnte sie einfach nicht allein ertragen.

      Am nächsten Vormittag fahren sie zur Citibank ins Zentrum von Medellin und Alejandro bemerkt: „Zurück fährst du am besten mit der Metro und bis zu unserer Wohnung benutzt du den Bus … bei mir wird es heute später … ich habe nach dem von mir bereits erwähnten Termin mit einem Geschäftspartner noch eine Menge anderer Dinge zu tun.“

      „Ist doch kein Problem … zudem habe ich keine weiteren Verpflichtungen … zum Glück habe ich ja Maria eingestellt … sie ist wirklich eine Perle und nicht nur eine Servierkraft für die Bedienung der Gäste … ihr habe ich schon Bescheid gegeben, dass ich nicht ins Restaurant komme … außerdem habe ich heute die Gaststätte ohnedies geschlossen … sie räumt auch nur auf und beaufsichtigt den Gärtner … dazu braucht sie meine Hilfe nicht.“

      „Ja, ja Maria … ich kenne sie schon seit mehreren Jahren von der Arbeit im Catering auf dem Messegelände … sie ist wirklich ein ganz fleißiges und zuverlässiges Mädchen … dafür, dass ich sie für dein Restaurant abgeworben habe, musste ich eine Menge Kritik einstecken … hat mir aber nichts weiter ausgemacht … es ist für mich viel wichtiger, dass du gut zurecht kommst.“

      „Dafür bin ich dir auch unendlich dankbar … ohne deine Hilfe hätte ich es in so kurzer Zeit nicht geschafft, ein so gut gehendes Restaurant in Medellin zu eröffnen.“

      Alejandro ist über die anerkennenden Worte hocherfreut. Doch bescheiden sagt er: „Ich habe nur ein klein wenig Unterstützung gegeben … mehr nicht … den Erfolg hast du dir schon selbst erarbeitet.“

      „Gut, wenn ich dann wieder zu Hause bin, richte ich das Abendbrot an und warte auf dich … eine Flasche Wein stelle ich auch schon kalt … es gibt doch mein erstes selbstverdientes Geld zu feiern … ich werde heute Abend auch bestimmt nicht müde sein“, sagt sie vieldeutig lächelnd.

      Das Geld ist schnell eingezahlt und freudig beschwingt tritt sie aus der Bank heraus. So glücklich wie jetzt ist sie lange nicht mehr gewesen. Die Vergangenheit liegt weit hinter ihr und sie verschwendet darüber auch keinen einzigen Gedanken. Von der Bank bis zum Zentrum ist es nicht weit. Ein Taxi ist schnell gefunden und kurze Zeit später steht sie auf dem Plaza Botero. Wie schon vor ein paar Tagen herrscht reger Touristenverkehr. Doch heute steht ihr nicht der Sinn nach Betrachten der Kunstwerke. Sie möchte ohne Hast das Kaufhaus besuchen und ein paar schöne Sachen entdecken. Für Alejandro eventuell ein ganz tolles Rasierwasser und für sich selbst vielleicht ein Paar neue Schuhe. So schlendert sie langsam und vergnügt über den Platz. Ihr Blick fällt auf die gegenüberliegende Terrasse des Cafe Juan Valdez. Sichtlich gut gelaunt erinnert sie sich an den Heiratsantrag, den ihr Alejandro an dieser Stelle gemacht hat. Noch heute sieht sie die Situation in allen Details vor Augen – so als wäre es gerade erst gestern gewesen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie durchströmt ein Gefühl der unendlichen Glücksseligkeit. Die zahlreichen Wünsche der Gäste für ein zukünftiges erfülltes Leben scheinen in Erfüllung gegangen zu sein. Jäh wird sie aus ihren Gedanken herausgerissen. Wie zu einer Salzsäule erstarrt bleibt sie stehen. Die Knie werden ihr weich und sie zittert am ganzen Körper. Nur ein paar Meter vor ihr steht Paula Pattberg, die sich interessiert eine der monumentalen Skulpturen anschaut. Das kann nicht sein – das gibt es doch gar nicht – Tote können doch nicht wieder auferstehen - sind ihre Gedanken. Doch die Frau mit den langen roten Haaren und den niedlichen Sommersprossen sieht tatsächlich aus, wie die junge Tierärztin aus Akazienaue, die sie vor über fünfzehn Jahren heimtückisch ermordet hat. Was sie nicht wissen kann – die rothaarige Frau ist die Tochter von Paula Pattberg. Nur mühsam schleppt sie sich bis zu einer der Bänke, die rings um den Platz aufgestellt sind. Ihre Blicke wandern immer wieder hinüber zu dem jungen Mädchen. Erst jetzt kann sie einigermaßen wieder klare Gedanken fassen. Es kann sich doch gar nicht um die Tote handeln. Diese wäre doch jetzt schon über vierzig Jahre alt und das Mädchen ist bestimmt nicht älter als Zwanzig. Jetzt habe ich wirklich Gespenster gesehen, beruhigt sie sich selbst und gewinnt wieder langsam die Fassung zurück. Der Schreck sitzt ihr jedoch noch tief in der Seele und die Lust zum Einkaufsbummel ist ihr völlig vergangen. Auch auf die Rückfahrt mit der Metro verzichtet sie. Stattdessen fährt sie mit einem Taxi zurück in ihre Wohnung. Mit einem Glas Wein in der Hand steht sie auf dem Balkon und versucht, das so eben Erlebte zu vergessen. So recht gelingt es ihr nicht. Je länger sie darüber nachdenkt, umso deutlicher begreift sie, dass sie ihr neues Leben mit einer Lüge begonnen hat. Doch es gibt kein zurück. Zu viel Angst hat sie vor der Offenbarung ihrer Vergangenheit und den daraus möglicherweise entstehenden Folgen. Sie darf gar nicht daran denken, wenn sich Alejandro deshalb von ihr abwenden würde und das bisherige glückliche Leben abrupt beendet wäre. Und ob er ihr die grausame Tat von damals verzeihen könnte – darüber ist sie sich nicht sicher. In der jetzigen Situation fühlt sie sich unendlich einsam – sie hat keinen Menschen, mit dem sie über das Erlebnis sprechen könnte – eine solche Bezugsperson fehlt ihr im Augenblick wahnsinnig sehr. Betrübt schaut sie auf das Lichtermeer von Medellin und fühlt sich das erste Mal, seit dem sie hier lebt, unendlich unglücklich. Doch dann kommt Alejandro wie üblich in das Zimmer gestürmt. Begeistert erzählt er, dass die Modemesse in diesem Jahr noch größer wird und einige Länder, die bisher nicht teilgenommen haben, in diesem Jahr mit dabei sind. Angesteckt von seinem Optimismus und seiner Lebensfreude sind ihre düsteren Gedanken schnell verflogen und es wird ein wunderbarer romantischer Abend unter dem Sternenhimmel von Medellin.

      Deutschland Sommer 1996

      Paula Pattberg liegt fast reglos auf dem Bett im Zimmer des Studentenwohnheimes. Soeben war sie bei ihrer Ärztin und hat Gewissheit erhalten: Sie ist schwanger. Was soll jetzt werden – überlegt sie. Neun Semester hat sie gebüffelt bis zum Umfallen und alle Vorprüfungen erfolgreich bestanden. Nur ein Jahr trennt sie von der Erfüllung ihres Lebenstraumes, endlich als Tierärztin arbeiten zu können. Und dann war diese verflixte Semesterabschlussfete. Es wurde viel getrunken, getanzt und gelacht. Zu später Stunde erhielt die fröhliche Runde durch den Besuch der Dozenten der veterinärmedizinischen Fakultät eine erfreuliche Bereicherung. Die mit viel Hallo begrüßten Gäste erwiesen sich als spendierfreudig. Einer von ihnen bemühte sich ganz intensiv um sie. Es war Dr. Benjamin Apenzeller, der angehende Dekan der Fakultät. Seine Komplimente zu ihren leuchtenden grünen Augen und den roten Haaren fand sie infolge des reichlichen Alkoholgenusses an diesem Abend besonders charmant. Ihr schmeichelte, dass gerade der gut aussehende und attraktive Hochschullehrer sich so um ihre Gunst bemühte. Im Stillen genoss sie die neidischen Blicke ihrer Kommilitonen und war schon deshalb nicht unbedingt zurückhaltend zu ihm. Von ihrer ansonsten eher zurückhaltenden Art gegenüber Männern war durch den reichlichen Alkoholgenuss nichts mehr übrig geblieben. Auch als er auf dem Nachhauseweg auf einer Parkbank über sie kam, ließ sie ihn gewähren. Im Nachhinein macht sie sich wiederholt Vorwürfe, warum sie sich nicht dagegen gewehrt hat. In den folgenden Tagen gab es nur wenige Begegnungen zwischen Paula Pattberg und Dr. Benjamin Apenzeller. Stets war er freundlich. Aber mehr, als hallo und wie geht es, hatte er nicht für sie übrig. Der Abend und die heißen Liebesversprechungen waren für ihn eben nur eine kleine unbedeutende Episode – mit diesen Gedanken tröstet sie sich schon nach wenigen Tagen. Sie steht auf und schaut zum Fenster hinaus. Im Moment ist sie ratlos, wie es weitergehen soll – mit dem Studienabschluss – dem zu erwartenden Baby – mit der Beziehung zu Dr. Apenzeller – was werden wohl ihre Eltern dazu sagen – alles für sie im Augenblick wahnsinnig belastende Fragen und sie findet keine Antwort darauf. Plötzlich kommt ihr der Gedanke: Ich muss mit ihm reden – ihm die Situation schildern – vielleicht hat er die passenden Antworten und hilft mir. Den Grund für die Verabredung nennt sie ihm am Telefon nicht. Mit völlig falschen Vorstellungen kommt er zu der Parkbank. In Erwartung, einen amourösen Abend zu erleben geht er mit schnellen Schritten auf Paula Pattberg zu. Galant begrüßt er sie mit einem Handkuss und zieht sie heftig an sich. Vehement stößt sie ihn zurück