Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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wildere Szenen entstanden in seiner Phantasie: Er würde Diego beiseite fegen wie eine Stoffpuppe. Ein, zwei Schläge mussten reichen, dann würde dieser Schönling für Wochen außer Gefecht sein, und dann würde er sich Lana vornehmen. Er würde ihr erklären, dass er sie liebte und sie würde endlich begreifen, dass sie zu ihm gehörte. Hatte er nicht alles getan, sie zu beschützen? Hatte er sie nicht Tag und Nacht beobachtet, um zu wissen, wie weit sie in ihrem Leichtsinn ging? Sie musste es doch sehen, wie sehr er sie liebte.

      Lana musste es einfach erkennen. Wenn sie erst sah, dass dieser Diego sie nicht beschützen konnte, würde sie in seine Arme kommen, und dann würde er das tun, wovon er schon seit Jahren träumte. Er würde ihr zeigen, wer der Boss ist, und sie würde es nie wieder wagen, auch nur einen Schritt weit von seiner Seite zu weichen.

      Einem plötzlichen Impuls folgend stieg Pascal voll auf die Bremse und bog in einen schmalen Seitenweg ein, der sich am Hang eines Hügels emporzog. Die Gegend hier war völlig einsam. Kleine Waldstücke wechselten sich mit Wiesen ab, auf denen der sanfte, warme Wind immer neue Wellenmuster erzeugte.

      Pascal nahm das alles nur am Rande wahr. Er suchte den Porsche, aber außer einem alten, gummibereiften Anhänger, den wohl ein Bauer hier abgestellt hatte, war bis zum Ende des Weges nichts zu entdecken.

      Etwas ernüchtert wendete Pascal und fuhr den Hügel wieder hinab. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, dass sein Instinkt ihn auf die richtige Spur geführt hatte, aber das war ein Irrtum gewesen. Es hatte nicht viel Sinn, auf diese Art zu suchen, das sah er jetzt ein. Trotzdem ließ er auf dem Heimweg keinen Feldweg und keine Nebenstrecke aus. Schließlich konnte man ja nicht wissen, ob hinter der nächsten Baumgruppe nicht doch Lana und Diego in ihrem Liebesnest lagen.

      So wurde es später Nachmittag, bis Pascal mit fast leerem Tank wieder auf den Parkplatz des Neptune kam. Die Schlaglochpisten waren dem Wagen nicht bekommen. Jedes Mal, wenn er in eine enge Kurve fuhr, knackte es bedenklich im Bereich der Vorderachse, aber das war Pascal egal. Seine Wut war noch nicht verraucht, und seine Entschlossenheit, Lanas Vater die Augen zu öffnen, war stärker denn je. Es würde jede Menge Ärger geben, dazu war Plan B immer noch gut genug. Mit verdrießlichem Gesicht schnappte er sich die Digicam vom Beifahrersitz und machte sich auf den Weg zum Stellplatz der Rouviers. Da waren ein paar Bilder drauf, die Lanas Vater, den alten Trottel, endlich überzeugen mussten. Nicht die Bilder, die Pascal eigentlich hatte machen wollen, aber immerhin ...

       29 DER INQUISITOR

      Jean reagiert blitzschnell. Er schwingt an der Felswand zur anderen Seite und findet mit seinen nackten Füßen neuen Halt.

      Mir schlägt das Herz bis zum Hals. „Er wird noch abstürzen. Diego tu doch was!“

      „Der stürzt nicht ab, der klettert nicht zum ersten Mal.“

      Ich kann das nicht mehr mit ansehen, mir ist kotzübel. Vorsichtig robbe ich von der Kante weg und stelle mich in sicherer Entfernung vom Abgrund zitternd wieder auf die Füße. Während ich mir notdürftig den Staub von den Kleidern klopfe, erscheint plötzlich Jeans Kopf über der Abbruchkante. Schnaufend schwingt er sich auf den sicheren Boden und steht auf. Er haut sich vor die Brust und erklärt mit schiefem Grinsen „Jean!“

      Diego, der sich ebenfalls wieder aufgerichtet hat, mustert Jean kritisch. „Du hast sie aus der Schlucht geholt?“

      Jean nickt und sagt bekräftigend: „Jean!“

      „Und, wo ist sie jetzt?“

      „There! Là-bas!“ Jean winkt mit der Hand vage in die Richtung, in der die schmale Piste weiter führt, auf der wir gekommen sind.

      „Also doch“, flüstert Diego und presst dabei die Lippen zusammen. „Ich weiß, wo er sie hingebracht hat Lana. Gib ihm irgendetwas und komm! Wir müssen hier schnellstens weg.“ Er geht zur Fahrerseite des Porsche, und bleibt wartend stehen.

      Ich gehe ebenfalls zurück zum Wagen, greife willkürlich unter das Tuch des Picknickkorbs und erwische ein Stück Käse.

      Jeans Augen blitzen auf, als er sieht, was ich in der Hand halte. Schnell kommt er zu mir gelaufen.

      „Danke Jean, das hast du alles richtig gut gemacht. Das hier ist deine Belohnung!“ Mit diesen Worten reiche ich ihm den Käse.

      Er lacht laut auf, drückt das Käsestück an seine fleckige Brust, streichelt es mit seinen dreckigen Händen und fängt an, lustvoll zu brummen.

      Ich wische mir die Hände an den Shorts ab, drehe mich um, hole meinen Spiegel aus der Hosentasche und klappe ihn auf, um zu sehen, ob ich im Gesicht dreckig geworden bin. Mit einem Mal sehe ich ein halbes Gesicht hinter mir riesengroß im Vergrößerungsspiegel. Erschrocken schreie ich auf und fahre herum.

      „Da, regardez!“ Jean hüpft aufgeregt auf und ab und zeigt mit begehrlichen Blicken auf meinen Klappspiegel.

      „Nein Jean, das ist meiner, du hast deinen Käse!“

      „Only regardez, not touchez“, murmelt er einschmeichelnd und kommt näher.

      Seufzend hebe ich ihm den Spiegel entgegen, ohne ihn loszulassen.

      Jean schaut vorsichtig hinein und fährt erschrocken zurück. Wieder schaut er hinein und fängt an, grunzend zu lachen.

      „Lana, lass uns endlich fahren!“ Diego wird langsam ungeduldig, also klappe ich den Spiegel zusammen und stecke ihn ein.

      „Non, non, non!“ schreit Jean ganz aufgeregt und rennt um den Wagen herum zu Diego.

      „Stop! Stop! Show you! Regardez!“ Jean hüpft mit seinem Käse im Arm auf und ab und ist ganz atemlos.

      „Was will er denn nun noch?“

      „Stone magique! From Tauri. Tauri donnez moi“, stößt Jean beschwörend hervor.

      „Ja klar, der Stier hat dir einen magischen Stein geschenkt!“ Diego ist genervt. „Oh Mann, so langsam reicht’s mir mit dem Kerl. Wir müssen los!“

      Hektisch springt Jean zu ihm hin und fuchtelt wie wild mit der freien Hand in der Luft herum. „Non, non, non!“, kreischt er. „Stone, nugget, rouge, red, from Tauri, rouge! I show you! Regardez!“ Jean rennt los. Immer wieder schaut er sich zu uns um und ruft „Regardez! Regardez!“

      „Warte Diego, ich glaube, der kann uns wirklich noch was zeigen.“

      „Yes, yes, I’ll show you“, freut sich Jean. Er deutet auf eine Stelle im Gras und sagt „Tauri“. Mit der Hand deutet er an, wie der Tauri sich bewegt hat. dabei macht er mit vorgewölbten Lippen brummende Geräusche. Er geht hastig auf einen großen Felsbrocken zu und zeigt darauf. „Bang!“ ruft er, was wohl heißen soll, das der Tauri hier angestoßen ist. Er bückt sich und hebt einen imaginären Gegenstand auf. „Stone!“ erklärt er und hält das Nichts stolz hoch in die Luft.

      „Und wo ist der Stone?“

      „Lana!“ Diego stöhnt verzweifelt auf. „Weißt du was ich glaube? Der Kerl freut sich so über Gesellschaft, dass er alles Mögliche veranstalten würde, nur um uns hier festzuhalten!“

      Möglich, dass Diego Recht hat, aber trotzdem. „Willst du mir den Stone zeigen Jean? Wo ist er denn?“

      Jean nickt eifrig und rennt auch schon los. Langsam folge ich ihm.

      „Lana!“ ruft Diego gequält hinter mir her. „Wir müssen weg!“

      Jean winkt mir mit einer Hand, ihm zu folgen und rennt, oder besser hüpft in Richtung Waldrand. Dort nimmt er das Tuch von der Nektarine, wickelt diese zusammen mit dem Käse hinein und deponiert alles wieder auf dem flachen Stein. Dabei stößt er ein paar wütende Worte in Richtung der Ziegen aus und droht zum Schluss sogar noch mit dem Zeigefinger. Schließlich rennt er weiter bis zu einem Baumstumpf am Waldrand. Dort lässt er sich auf die Knie fallen und wühlt in einer Höhlung im Holz herum. Dabei stößt er lachende, schluchzende und grunzende Laute aus.

      Ich bin ihm gefolgt und stehe nun in einigem Abstand