Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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das beruhigt mich jetzt aber sehr. Schön, dass ich das nun auch schon erfahre.

      Gerade haben wir den Wagen erreicht, als Sprachfetzen aus dem Gebüsch dringen. Ein gutes Stück von uns entfernt tritt ein Mann in fleckigen, zerrissenen Jeans auf die Lichtung. Noch hat er uns nicht bemerkt. Laut auf sie einredend schleppt er eine meckernde Ziege auf den Armen. Die Ziege zappelt und ist mit dieser Behandlung ganz offensichtlich nicht einverstanden. Er redet weiter auf sie ein in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Einige französische Laute mischen sich mit spanischen, italienischen und auch mit englischen Wortfetzen. Endlich setzt er die Ziege ins Gras zurück und gibt ihr mit seinem nackten Fuß einen Tritt in Richtung der Herde. Dabei gestikuliert er wild und schreit mit tiefer rauer Stimme: „Go ahead! Là-bas!“

      Die Ziege trottet los und er knurrt ihr noch ein paar wütend ausgestoßene Verwünschungen hinterher, während er das Kinn immer wieder in ihre Richtung reckt und drohende Gebärden macht.

      Plötzlich lacht er laut auf und dreht sich dabei zu uns um. Erschrocken erstarrt er mitten in der Bewegung, duckt sich und dreht sich halb von uns weg. Seine dunklen Augen wandern hektisch zwischen uns, dem Waldrand und den Ziegen hin und her und er weiß ganz offensichtlich nicht, was er tun soll.

      „Da haben wir wohl den Dorfdeppen gefunden“, meint Diego leise.

      Stimmt! Nach dem ersten Schrecken wird mir bei diesem Anblick klar, dass da jemand vor uns steht, der nicht mit sehr viel Verstand gesegnet ist. „Keine Angst“, rufe ich und winke ihm lächelnd zu.

      Vorsichtig richtet er sich auf. Sein Mund steht offen und er schaut mich erstaunt mit großen Augen an. Schließlich hebt er zögernd eine Hand bis in Brusthöhe und winkt leicht. Man hat ihm wohl beigebracht, zurück zu grüßen, wenn er gegrüßt wird. Um so besser. Wenn er sich so was merken kann, weiß er vielleicht auch noch andere Sachen. Langsam gehe ich auf ihn zu.

      „Lass den“, Diego hält mich fest, „Das ist doch bloß ein Idiot. Siehst du das nicht?“

      Ich mache mich von Diego los, gehe um den Wagen herum und nehme eine Nektarine aus unserem Picknick-Korb. Wie ich vermutet habe, ruckt der Kopf des Hirten zu der Nektarine herum. „Schau mal Diego! Der weiß, was gut schmeckt.“

      „Was hast du vor? Willst du ihn dressieren? Komm lass uns gehen, du verschwendest nur deine Zeit“, brummt Diego ärgerlich hinter mir.

      „Jetzt lass mich doch!“ Ich bewege die Nektarine vor mir hin und her, während ich mich näher an den Mann heranpirsche. Wie erwartet folgt er der Bewegung meiner Hand mit gierigen Blicken, während er unruhig mit den Füßen trampelt. Fast so wie Dusty gestern Nachmittag am Strand.

      „Willst du die haben?“ frage ich, als ich nahe genug bei ihm bin. Uns trennen ungefähr noch zwei Meter, aber da ich merke, dass er nervös wird, lege ich die Frucht vorsichtig ins Gras und ziehe mich etwas zurück. Erstaunt schaut der Hirte auf die Nektarine im Gras und dann auf mich. Dabei stößt er brummende Laute aus.

      „Nimm sie dir, die ist für dich“, sage ich mit freundlichem Ton.

      Misstrauisch nähert er sich mit tapsenden Schritten der Frucht, wobei er mich nicht aus den Augen lässt. Je näher er mir kommt, um so mehr duckt er sich und geht schließlich seitlich in gebückter Haltung mit vor dem Gesicht erhobenen Händen. Wild schüttelt er dabei den Kopf, während er versucht, gleichzeitig mich und die Nektarine im Auge zu behalten. „Ne pas touchez Madame, only das!“ Mit einem zitternden Finger deutet er auf die Nektarine im Gras und hebt die Hand dann schnell wieder vor sein Gesicht.

      Schon klar: Er will nicht mich anfassen, sondern sich nur die Frucht schnappen. Aber warum betont er das so?

      „Ich bin Lana“, sage ich und deute dabei auf meine Brust. Der Mann starrt mich an. Langsam richtet er sich auf und schaut auf seine ausgebreiteten Hände, die er schließlich dicht vor seine Augen hält. Ratlos schaut er dazwischen hin und her. Mit einem Finger beginnt er, auf den anderen herumzutippen, während er leise murmelt. Was tut er da? Nach einer ganzen Weile schaut er wieder mit offenem Mund auf mich und schüttelt energisch den Kopf.

      „Wie ist dein Name?“ Ich deute mit der Hand in seine Richtung. Erschrocken duckt er sich und weicht mit einem wimmernden Laut etwas zurück.

      „Nein, nein. Lana tut dir nichts. Lana schenkt dir diese Frucht. Schau, die ist für dich.“ Bei diesen Worten deute ich auf die Nektarine im Gras. „Wie ist dein Name, wie heißt du?“

      Hinter mir höre ich Diego etwas von „Ich Tarzan du Jane“ murmeln. Ich ignoriere das.

      Geduldig wiederhole ich meine Geste und meinen Namen und frage abermals „Wie ist dein Name?“ Wieder deute ich auf ihn und plötzlich merke ich, wie es in seinen trüben Augen aufblitzt. „Jean“ stößt er heißer hervor, haut sich dabei auf die Brust und stößt ein kehliges Lachen aus. „Jean!“ Stolz schaut er mich an und nickt.

      „Dein Name ist Jean? Ein schöner Name“, lobe ich ihn und zeige wieder auf die Frucht im Gras. „Die ist für Jean!“

      Er schaut auf die Nektarine, hebt langsam den Kopf und sieht mich an. „L-a-n-a“, bringt er stockend hervor und zeigt auf mich. Sein Finger wandert zu der Nektarine und von dort weiter zu sich „Jean?“

      „Ja, genau! Lana schenkt sie Jean.“

      Jean stößt ein unsicheres Lachen aus, schießt plötzlich vor, schnappt sich die Frucht und weicht dann in sichere Entfernung zurück. Dabei hält er die Nektarine schützend vor das bräunlich verfleckte ehemals gelbe T-Shirt. Vorsichtig geht er ein paar Schritte rückwärts, ohne uns aus den Augen zu lassen. Sorgsam legt er die Frucht auf einen Stein am Waldrand, zieht ein Tuch aus seiner Hosentasche und deckt es behutsam darüber. Dabei beobachtet er unter seinen wulstigen Augenbrauen hervor nervös und feindselig einen Ziegenbock, der in einiger Entfernung grast.

      Ich wende mich zu Diego um, der am Wagen steht und uns mit ziemlich genervtem Gesichtsausdruck beobachtet. „Siehst du, er hat verstanden.“

      „Na toll! Ist ja schön, aber was soll das bringen? Wenn das Gespräch zwischen euch in diesem Tempo weiter geht, baue ich in der Zwischenzeit am Besten schon mal einen Unterstand. Dann können wir hier nämlich übernachten, bis du etwas über die alte Frau erfahren hast.“

      „Frau?“ kommt es plötzlich fragend und unsicher von Jean. Mein Kopf schnellt herum. Jean steht da und schaut uns mit weit aufgerissenen Augen aufgeregt an. „Frau?“ wiederholt er, „Old?“ fügt er noch hinzu und wird immer unruhiger.

      „Ja eine alte Frau, old, wir suchen sie.“

      Jean schüttelt den Kopf. „No, no, Jean Ziege!“ stößt er hervor und klopft sich dabei auf die Brust.

      „Jean hat eine Ziege gesucht?“ vermute ich.

      Wild nickt er. „Ziege Frau, this Angst, läuft läuft läuft!“ Verzweifelt ringt er die Hände, während seine Stimme immer höher wird. „Nicht sehen! Da, da, da!“ Hektisch zeigt er mit dem Finger zu einer Stelle am Rand der Wiese. Plötzlich duckt er sich und sein Gesicht bekommt einen lauernden Ausdruck. Die Augen verengen sich zu Schlitzen und er zieht die Lippen von den Zähnen. „Hommes mal, mal!“ knurrt er.

      „Da waren böse Männer?“ frage ich nach.

      Jean nickt. „Frau peur!“ Gequält stößt er diese Worte hervor und verzieht dabei schmerzerfüllt das Gesicht „Peur hommes!“

      „Die Frau hatte Angst vor den bösen Männern und ist weggelaufen?“ fragt Diego plötzlich hinter mir. Jean sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Statt einer Antwort stürmt er zu der Stelle, auf die er eben gedeutet hat, bleibt dort stehen und zeigt mit wilden Gesten in die Schlucht, die hier an die Lichtung stößt. „Da, da, da, weg!“ stößt er in höchster Verzweiflung aus, „weg!“

      „Die Frau ist in die Schlucht gestürzt?“ Ich schlage mir die Hand vor den Mund und schaue Jean mit kaltem Entsetzen an. Der schüttelt den Kopf und wiederholt „Weg! Weg!“

      „Du hast sie nicht mehr gesehen?“ vermutet