Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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draußen, als ich vermutet habe. Wie ist er so schnell dorthin gekommen?

      Mit langsamen, aber kraftvollen Zügen schwimmt er zum Strand, nimmt seine Sachen auf, schlüpft in die Shorts und schlendert, das T-Shirt in der Hand mit nass glänzendem Oberkörper zu mir zurück.

      Ich sitze da und schaue ihm staunend entgegen. Nicht, weil seine gebräunte Haut so makellos im Sonnenlicht glänzt, sondern weil da Diego auf mich zukommt. Der Diego, den ich kenne und nicht der, der eben so verzweifelt und verkrampft neben mir gehockt hat. Ich staune über diese Verwandlung. Schon von weitem lächelt er mir zu und mir wird ganz warm, als ich dieses Diego-Lächeln sehe, das mich von Anfang an so an ihm fasziniert hat.

      Schließlich steht er vor mir „Du willst nach Mons, dorthin, wo sie die alte Frau gefunden haben?“

      „Ja! Das ist Felix. Ich will wissen, was da passiert ist.“

      Er reicht mir die Hand. „Komm, wir müssen jetzt zurück. Es wird ein hartes Stück Arbeit, aber ich weiß schon, wie wir deine Eltern überzeugen.“ Mit diesen Worten zieht er mich aus dem Sand und legt den Arm um meine Schulter. Es geht mir längst nicht mehr so schlecht, wie vorhin. Ich könnte auch alleine gehen. Aber warum sollte ich? So ist es doch viel schöner.

      Während wir den Weg zu unserem Stellplatz entlang schlendern, schießt mir plötzlich eine Frage durch den Kopf. Na ja, wie bei mir üblich, schießt sie eben nur durch und aus dem Mund gleich wieder raus: „Wieso bist du überhaupt hier?“ Diese Frage klingt in meinen eigenen Ohren so extrem doof, dass mir die Schamröte ins Gesicht steigt.

      Diego bleibt stehen und schaut mich erstaunt, fast schon lauernd an.

      „Ich meine“, stammele ich schnell weiter, „ich freu mich total, dass du hier bist, aber wie ist das gekommen? Ich meine, dass du hier bei mir, bei uns bist, dass du dich mit meinen Eltern so gut verstehst. Weißt du, wie ich meine?“ füge ich unsicher hinzu. Diego drückt mir die Schulter, grinst und zieht mich weiter.

      „Ich hab dich vorgestern nicht am Strand gesehen und mir Sorgen gemacht. Dann habe ich deine Freundin getroffen und die hat mir erzählt, was passiert ist. Da bin ich natürlich gleich zu euch. Ich musste doch wissen, wie es dir geht!“

      „Aber meine Eltern, die, die haben dich einfach so zu mir gelassen? Das ist sonst gar nicht ihre Art, die kennen dich doch eigentlich gar nicht!“

      „Deine Eltern sind ganz okay“, erwidert er gelassen, „ich hab mich vorgestellt, ein wenig mit ihnen geplaudert. Sie mögen mich, glaube ich.“

      Unsicher schaue ich ihn von der Seite an. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Meine Eltern würden keinesfalls so schnell mit einem Fremden Freundschaft schließen, von dem sie wissen, dass der was von ihrer Tochter will. Niemals hätten sie mich dann auch noch in meinem Zustand mit diesem Fremden allein an den Strand gehen lassen. Wie zum Teufel hat Diego das bewerkstelligt, dass sie ihm ihre Tochter anvertrauen?

      „Da seid ihr ja!“ der hörbar erleichterte Ausruf meiner Mutter scheint mich in meinen Gedankengängen zu bestätigen.

      „Hallo Madame Rouvier!“ Diego lächelt neben mir total charmant und seine Stimme bekommt wieder diesen samtigen Unterton, als er fortfährt. „Hier bringe ich Ihnen Ihre Lana wieder. Der frische Seewind hat ihr gut getan, es geht ihr schon viel besser.“

      Erstaunt schaue ich ihn an. Er hat Recht, es geht mir wirklich besser. Aber woher, verdammt noch mal, will er das wissen? Wie kommt er dazu, das einfach so zu behaupten? Wir haben über alles Mögliche gesprochen, aber nicht über meine Befindlichkeiten!

      „Das ist ja wunderbar.“ Meine Mutter lächelt zuckersüß. „Möchtet ihr was trinken? Setzt euch doch!“ Mein Vater kommt mit Gläsern und einer eiskalten Flasche Evian aus dem Wohnwagen und stellt alles auf den Tisch. Auch er lächelt so irgendwie anders, fremd. Was ist mit ihnen los? Irgendwie sind meine Eltern im Moment nicht meine Eltern. Sie kommen mir fast schon - ferngesteuert vor.

      „Monsieur Rouvier“, wendet sich Diego an meinen Vater, nachdem er sich gesetzt und höflich dankend ein Glas Wasser in Empfang genommen hat. „Ich möchte Ihnen morgen Ihre Tochter entführen, zu einem kleinen Ausflug in die Berge, damit sie auf andere Gedanken kommt. Was halten Sie davon?“

      Mein Vater öffnet und schließt kurz den Mund. Unsicher schaut er meine Mutter an. Auch Maman wirkt irgendwie verwirrt.

      „Ich werde sie Ihnen heil zurückbringen“, fügt Diego neben mir leise hinzu.

      „Warum eigentlich nicht?“ lächelt mein Vater plötzlich erleichtert, „Das wird ihr sicher gut tun, oder was meinst du, Marie?“

      Meine Mutter nickt lächelnd. „Sicher, das wird ihr bestimmt Spaß machen. Oder Lana?“

      Na endlich fragt in diesem ganzen Schmierentheater auch mal jemand nach meiner Meinung. „Ja klar!“ erwidere ich und bemühe mich, nicht zu enthusiastisch zu klingen, damit meine Eltern nicht doch noch Verdacht schöpfen. Aber für sie scheint das Thema erledigt. Sie reden mittlerweile mit Diego über das Wetter und die hohen Benzinpreise, so als ob es nichts Außergewöhnliches sei, seine Tochter gerade mal mit einem Wildfremden in die Berge zu schicken.

      Was verdammt noch mal ist hier los? Spielen die mir hier alle Theater vor? Aber dieses Mal halte ich den Mund. Schließlich will ich kein Risiko eingehen, dass die ganze Sache doch noch platzt.

      Während Diego sich charmant und weltläufig mit meinen Eltern unterhält, denke ich darüber nach, was wir wohl morgen herausfinden werden. Vielleicht ist das mit Felix ja doch nur ein schrecklicher Irrtum.

       25 COMMISSAIRE RENO

      Commissaire Reno hätte mit sich zufrieden sein können. Die Information, die er Sochon hatte zukommen lassen, hatte ihm ein hübsches Sümmchen eingebracht und ein ähnlicher Deal mit Adriano Del Toro war auch sehr gut gelaufen. Del Toro hatte ihm glatte Fünftausend zukommen lassen, auch wenn Reno nicht darum gebeten hatte.

      Reno hatte nie nach Geld gefragt, aber dennoch hatte ihm die Verbindung zu diesem seltsamen Volk, dem Alten Bund, wie sie sich selbst nannten, im Lauf der Jahre so viel eingebracht, dass er sich von heute auf morgen hätte zur Ruhe setzen können, wenn er es gewollt hätte. Reno war jedoch zu sehr Kriminalist, als dass er seinen Posten vorzeitig geräumt hätte. Es machte ihm Spaß, die Geheimnisse zu lüften, die Verbrechen verschleierten, und die Lügengebäude zum Einsturz zu bringen, die andere so kunstvoll zu errichten wussten. Genau darum war er auch nicht glücklich damit, wie der Fall Felicitas Dagget im Moment lief.

      Reno seufzte, griff nach dem Aktenordner und sah sich das Bild von Felicitas noch mal an. Es bedrückte ihn, dass die Eltern dieses fröhlichen, lebensfrohen Mädchens niemals erfahren würden, was wirklich mit ihrer Tochter geschehen war.

      Reno hielt sich selbst für unbestechlich, und das war er im Grunde genommen auch. Es war nur so, dass er selbst so tief in der Schuld dieses seltsamen Wasservolks stand, dass er einfach nichts unternehmen konnte, was Sochons Interessen zuwiderlief.

      Fast Zwanzig Jahre war es jetzt her, dass er mit seiner Familie, von Saint Maxime aus, einen mehrtägigen Ausflug in einem gemieteten Segelboot gemacht hatte. Mitten auf dem Meer war in der Kajüte plötzlich der kleine Gasherd explodiert. Die Aufbauten hatten sofort Feuer gefangen. Renos Frau hatte sich verletzt aus der Kajüte retten können. Der Feuerlöscher war unerreichbar direkt über dem Herd, genau in den Flammen gewesen. Entgeistert und hilflos hatten sie vom Heck des Bootes aus zusehen müssen, wie sich der Brand durch Sperrholz und Kunststoff immer weiter auf sie zu fraß.

      Brennendes Plastik war von den Aufbauten herabgetropft und hatte immer neue Brandnester entfacht. Es hatte einen Wassereinbruch gegeben. Rettungsringe hatte der Vermieter sich gespart und sie hatten kein anderes Schiff in der Nähe entdecken können. Die Segel hatten Feuer gefangen, und plötzlich waren sie im Wasser gewesen: Reno, seine Frau und seine dreijährige Tochter.

      Sie waren in Richtung Küste geschwommen und hatten abwechselnd die Kleine über Wasser gehalten. Sie hatten gewusst, dass das alles eigentlich