Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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der Wahl“, verkündet sie fröhlich, als wenn nichts gewesen wäre und schmeißt uns ein Bündel Tageszeitungen in den Sand. „Hier und da seid ihr wirklich gut getroffen. Viel Spaß damit.“ Mit diesen Worten wendet sie sich um und geht davon.

      „Wie kann man nur so eine Giftspritze sein? Gestern Abend war sie doch ganz nett?“ Pauline schüttelt den Kopf und greift nach einer Zeitung.

      „Ja, da brauchte sie euch ja auch noch“, meint Fleur, während auch sie nach einer Zeitung langt.

      Wir beschäftigen uns eine Weile lustlos mit den Berichten und Fotos von der Wahl zur Teen-Miss-Port-Grimaud. Auf fast allen Bildern ist Felix mit drauf. Man kann sehen, wie sehr sie sich freut. Es ist unerträglich. Wir legen die Blätter wieder zusammen. Die düstere Stimmung hält uns schlimmer als zuvor gefangen. Ich komme mir so schuldig vor: Warum habe ich Felix dort nur allein gelassen?

      Didier kommt angerannt. „Lana!“ ruft er schon von weitem, „Barnabé hat den Fernseher angemacht, sie berichten über uns!“

      Schnell stehen wir auf und laufen hinter ihm her zur Bar.

      „... intensiver Suche unter Einsatz von Spürhunden und Wärmebildkameras immer noch keine Spur von Felicitas Dagget. Wo ist dieses Mädchen, wer hat sie zuletzt gesehen? Was ist mit ihr geschehen, nachdem sie das Les Sables in Grimaud verlassen hat? Mit wem ist sie mitgegangen?“

      Man sieht das Hinterland unseres Campingplatzes aus der Hubschrauberperspektive, dann das Les Sables und schließlich ein Foto von Felix. Mir fährt ein Stich durch die Brust, als ich in dieses fröhlich lächelnde, liebe Gesicht sehe. Schon wieder, wie so oft an diesem Tag steigen mir die Tränen in die Augen. Pauline, die zwischen uns steht, umarmt Fleur und mich gleichzeitig, aber was nützt das? Felix ist weg! Und warum kommt Diego nicht hierher? Er muss von der Sache doch auch schon erfahren haben. Er kennt Felix doch. Er weiß doch, dass sie zu uns gehört.

      Wie hypnotisiert starre ich mit tränenverschleierten Augen weiter auf den Fernseher, so als wäre er ein Zauberkasten, dem Felix gleich überraschend unversehrt entsteigen könnte. Der Bericht ist vorbei.

      Dumpf dringt es an meine Ohren, dass die hiesige Regionalbahn zwei neue Züge bekommen hat, und dass die Departementverwaltung bekannt gibt, dass das Wasser an den Stränden der Region in diesem Jahr allen Qualitätsstandards entspricht. Was interessiert mich das? Die bunten Bilder flimmern über den Bildschirm, ohne dass ich wirklich einen Sinn darin erkennen kann. Eigentlich will ich Fleur und Pauline folgen, die schon zum Strand zurückgehen.

      Plötzlich werde ich doch noch einmal aufmerksam. Die Ansagerin erzählt von einer alten Frau, die an der Nordgrenze des Departements allein in den Bergen herumgeirrt ist, und das nur knapp überlebt hat. Im Hintergrund ist das Bild einer alten Frau mit kurzem, tiefschwarzem Haar zu sehen, die mir seltsam bekannt vorkommt. Der Bericht beginnt. Ein Reporter erscheint und ich versuche, mich auf seine Worte zu konzentrieren.

      „An der Departementgrenze, etwa zehn Kilometer nördlich von Mons ist heute Morgen eine alte Frau entdeckt worden, die dort völlig entkräftet allein in den Bergen herumirrte. Sie weiß nicht, wer sie ist und woher sie kommt. Es muss von der örtlichen Polizei noch geprüft werden, aber möglicherweise ist sie aus dem englischsprachigen Raum. Die Polizei bittet um ihre Mithilfe: Wer kennt diese Frau?“

      Der Sprecher verschwindet. Das Gesicht der Alten erscheint auf dem Bildschirm. Sichtlich nervös murmelt sie vor sich hin und schaut immer wieder aufgeregt in die Kamera. Sie scheint vor einem Krankenhaus zu stehen. Ihr Blick ist unstet und traurig. Sie kann anscheinend nicht richtig reden. Ihre Bewegungen sind hektisch und ihre strähnigen, schwarzen, Haare bilden einen nahezu makaberen Kontrast zu dem alten, faltigen Gesicht. Aber das Schlimmste kommt, als die Kamera zurückfährt. Sie trägt ein pinkfarbenes Top und einen weißen Minirock! Ich kann es nicht glauben, aber genau das hatte Felix doch gestern Abend an, als ich an ihr vorbeigerannt bin. Was ist das für ein Alptraum? Fange ich jetzt an, durchzudrehen?

      Wie gebannt starre ich auf diese Erscheinung und kann den Blick nicht vom Fernseher wenden. Die Alte schaut eindringlich in die Kamera und kommt mir so grausam bekannt vor. Ich kenne sie! Bestimmt!

      Auf einmal flackert Entsetzen in ihren dunklen Augen auf, während sie versucht, etwas zu sagen.

      Ich muss schlucken. Das Bild schnürt mir die Kehle zu, und dann ist es wie ein plötzlicher Schlag in den Magen: „Crazy!“, stößt die Alte rau hervor und lacht irre auf. „ Suddenly - und peng!“ Dann wird der Bildschirm kurz dunkel und die Nachrichtensprecherin erscheint wieder.

      Ich höre nicht mehr was sie sagt. Starr vor Entsetzen stehe ich mitten in der Bar und habe mit einem Mal das Gefühl, dass alles um mich herum in Zeitlupe abläuft, auch die Töne, die an mein Ohr dringen sind tiefer und langsamer geworden. Mir werden die Knie weich und es wird dunkel um mich. Ich wehre mich nicht dagegen. Alles ist besser, als die grässliche Erkenntnis, wer diese alte Frau ist.

       23 SOCHON

      König Sochon saß im warmen Licht der Abendsonne auf seinem Lieblingsplatz auf der Terrasse, sah auf das Meer hinaus, und nicht zum ersten Mal fühlte er sich wirklich alt.

      Fast eine halbe Million Tage und Nächte hatte er gelebt, aber die Probleme waren immer dieselben geblieben: Wie tarnen wir uns? Wie verbergen wir unsere Andersartigkeit, und wie gehen wir mit denen um, die sich nicht an die Regeln halten?

      Vor knapp einer halben Stunde hatte ihn einer seiner Vertrauensleute angerufen und ihm gesagt, dass es in den Regionalnachrichten interessante Neuigkeiten gäbe. In den Bergen sei eine Frau gefunden worden, die ganz den Eindruck erwecke, als habe jemand ihr die Lebenskraft geraubt. Zeitgleich sei ein Mädchen von einem der Campingplätze in Grimaud verschwunden. Der Mann hatte auch durchblicken lassen, dass er es für möglich hielt, dass Dolores und Adriano Del Toro etwas mit der Sache zu tun haben könnten.

      Sochon hatte dem Mann gedankt und das Gespräch beendet. Gedankenverloren hatte er das Telefon aber in der Hand behalten und ein wenig damit herumgespielt. Die schlechten Nachrichten kamen immer auf solchen Wegen. Früher waren es Läufer gewesen, dann Reiter mit versiegelten Briefen, und heute war es das Telefon, das die Welt von einem Moment auf den anderen verdunkeln konnte.

      Einer aus Sochons Volk hatte sie alle gefährdet. Was auch immer seine Triebfeder gewesen sein mochte, er hatte es riskiert, dass der Deckmantel, der über der Existenz des Alten Bundes lag, weggezogen wurde. Er, der König, würde handeln müssen, und er würde es so tun, wie er es immer getan hatte: Das Problem musste schnellstmöglich aus der Welt geschafft werden. Nur gut, dass er diesen Reno auf der Lohnliste hatte, sonst hätte er vielleicht zu spät von der Sache erfahren. Der Mann war zwar ein Fremder, aber zuverlässig und wertvoll. Sochon nahm sich vor, ihm eine Prämie zukommen zu lassen.

      Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Sochon wusste mehr als Reno, und sofort war ihm das Gespräch mit Diego wieder eingefallen. War der nicht kürzlich bei ihm gewesen und hatte ihm erzählt, dass er sich in eine Fremde verliebt hatte? Hatte er nicht selbst Sorge gehabt, die Beherrschung zu verlieren? Sochon konnte nur hoffen, dass es nicht gerade diese Fremde war, die man bei Mons gefunden hatte.

      Wirklich Diego? Sochon hoffte, dass das nicht so war. Er klappte sein Notebook auf und ging auf die Website des Senders, der die Berichte inzwischen online gestellt hatte. Was er dort zu sehen bekam, beruhigte ihn ein wenig. Das verschwundene Mädchen und die alte Frau entsprachen nicht Diegos Beschreibung. Zu groß war die Ähnlichkeit mit den Frauen aus dem eigenen Volk. Aber ansonsten schien es kein blinder Alarm zu sein. Die Frau war alt, ausgezehrt und verletzt, aber kein bisschen gebrechlich, sondern in erstaunlich guter, körperlicher Verfassung. Dazu noch der Verlust des Gedächtnisses ... Reno hatte Recht. Das alles waren Anzeichen dafür, dass einer aus Sochons Volk die Kontrolle verloren hatte.

      Aber wer? Leider fiel auch Sochon nur ein einziger Name ein. Auch sie war eine nahe Verwandte. Der Fluch des Blutes lastete auf ihr, wie auf dem König selbst. Sochon konnte das sogar verstehen. Er war in jungen Jahren bei weitem nicht so genügsam gewesen, wie er Diego erzählt hatte. Er kannte die Gier, die alle Bedenken beiseite fegte und alles egal sein ließ.