Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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ist verschwunden!“ Ihre Lippen beginnen zu zittern. „Sie ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen, sie ist weg, verstehst du? Keiner weiß, wo sie ist!“

      Pauline laufen plötzlich Tränen über ihre blassen, rot gefleckten Wangen. „Die Polizei ist da und befragt jeden. Sie wollen auch mit uns sprechen“ flüstert sie heiser.

      „Aber, aber“, stottere ich, „sie war doch gestern im Les Sables. Da hat sie doch noch mit irgend so Platten- oder Filmfuzzis gesprochen. Wie kann das denn sein? Ist sie denn nicht im Bus mitgefahren?“

      „Los komm!“ Fleur zieht mich am Ellenbogen, dreht sich um und geht voran. „Die Eltern haben schon die ganze Nacht versucht, sie anzurufen, aber das Handy ist aus.“

      Gemeinsam gehen wir zum Stellplatz von Felix´ Eltern, während mir die Bedeutung dessen, was passiert ist, immer noch nicht so richtig aufgeht. ‚Das kann nicht sein, das ist ein Irrtum, Felix ist nicht weg, sie kann nicht weg sein!’ drehen sich die Gedanken in meinem Kopf. ‚An so einem schönen Morgen kann nicht so etwas Schreckliches passiert sein!’

      Als wolle mich der Himmel eines besseren belehren, zieht mit einem Mal eine große Wolkenwand vor die Sonne und taucht den Campingplatz in ein trübes, graues Licht. Ein leichter Wind kommt auf und rauscht in den hohen Eukalyptusbäumen. Fröstelnd schaue ich zum Himmel, ziehe mir mein immer noch etwas feuchtes Badehandtuch eng um die Schultern und schlüpfe in meine Badelatschen.

      Eine beträchtliche Anzahl von Menschen drängt sich um das große Wohnmobil von Felix Eltern, neben dem der Streifenwagen steht. Ein einzelner, uniformierter Polizist hat Mühe, die Leute auf Abstand zu halten. Alle sprechen und gestikulieren aufgeregt durcheinander. Die, die schon mehr Informationen haben, erzählen denen, die erst später dazu gekommen sind, was passiert ist.

      Hässliche Bemerkungen wie: „Das kommt von so was“ und „Man sollte junge Mädchen eben nicht an so was teilnehmen lassen“ dringen an mein Ohr.

      Ärgerlich schaue ich mich nach den Sprechern um, kann sie aber in der Menge nicht ausfindig machen. Schade. Ich glaube, in diesem Moment hätte ich etwas tun können, was mir eigentlich gar nicht liegt: Ich hätte ihnen wirklich in ihr blöden selbstgefälligen Gesichter schlagen können.

      „Nun machen sie aber mal halblang, wie können sie so saudumm daher reden?“ höre ich Monsieur Bardanes wütende Stimme. „Wer saß denn dort gestern gaffend und sabbernd in der ersten Reihe?“

      „Danke Monsieur Bardane!“ flüstere ich befriedigt vor mich hin. Andere Stimmen werden laut, die seine Bemerkung unterstützen. Erregte Worte wie „scheinheilig“, „dummdreistes Gerede“, „falsche Moral“, „verlogenes Geschwätz“ fallen.

      Eine junge, uniformierte Polizistin hält uns an. „Seid ihr die Freundinnen von Felicitas?“ Wir nicken und sie schleust uns durch die aufgeregt diskutierende Menge.

      Vor dem Wohnmobil sitzen Felix’ Eltern niedergeschlagen am Tisch. Felix’ Mutter weint mit zuckenden Schultern still vor sich hin, während sie ein Bild von Felix in ihren zitternden Händen hält. Meine und Fleurs Mutter bemühen sich um sie. Sie hocken vor ihr und reden leise auf sie ein.

      Felix Vater reibt sich immer wieder mit seinen großen, rötlich behaarten Händen hilflos über das vom Schmerz verzerrte Gesicht. Auch er weint. Ungehindert rinnen die Tränen über seine bleichen, unrasierten Wangen, während ein großer Polizist in Zivil ihm Fragen stellt. Ab und zu blickt er hilflos zu dem Beamten auf, zuckt ratlos mit den Schultern oder schüttelt langsam den Kopf. Plötzlich vergräbt er sein Gesicht laut aufschluchzend in seinen Händen. „Oh no, no, no!“ kommt es gequält zwischen seinen Fingern hervor. Mein Vater tritt mit ernstem Gesicht und Tränen in den Augen hinter ihn und legt ihm die Hände beruhigend auf die zuckenden Schultern.

      Ich weiß nicht warum, aber genau bei diesem Anblick kommen auch mir die Tränen. Ich kann einfach keinen Mann weinen sehen, ohne selbst in Tränen auszubrechen. Es ist fast so, als würde die Schrecklichkeit des Geschehens erst dadurch wirklich Gewicht bekommen, das ein Mann darüber weint. Erst jetzt, wo ich diesen großen starken Mann weinen sehe, dringt die grauenvolle Wahrheit mit aller Macht in mein Bewusstsein: Felix ist wirklich verschwunden!

      „Nein, nein, nein!“ Ich wende mich ab und schluchze laut auf. Arme umfassen mich und ich höre die leise Stimme von Maman. „Komm Lana, nicht weinen, Chérie. Noch wissen wir doch gar nichts.“ Sie drückt mich wie eine Puppe mit hilflos hängenden Armen an ihre Brust und streicht mir tröstend über die Haare. Welch ein Widerspruch der Gefühle, fährt es mir durch den Kopf. Vor höchstens ein paar Minuten lag ich glückselig in Diegos Armen und jetzt sind da nur noch diese qualvolle Trauer, die Ungewissheit und die Angst.

      Plötzlich spüre ich eine kleine Hand, die meine drückt. Didier steht vor mir und schaut mich traurig an. „Lana“, sagt er mit zitternden Lippen, „ich bin froh, dass nicht du das bist!“ Dabei läuft ihm eine Träne über die Wange, die er verschämt mit der anderen Hand wegwischt.

      „Wir müssen Suchtrupps bilden und den Strand absuchen“, höre ich meinen Vater mit bebender Stimme sagen. Er muss sich räuspern. Um mich herum vernehme ich zustimmendes Gemurmel und die ersten Freiwilligen drängen sich nach vorne durch.

      Ich löse mich aus den Armen meiner Mutter und schaue mich um. Viele der anderen Campinggäste nicken. Auch sie sind bereit, bei der Suche zu helfen.

      Fleur, die sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter geflüchtet hat, schaut auf, während Pauline mit feuchten Augen und versteinerten Zügen ihrer Mutter hilft, Tee für die Eltern von Felix in Becher zu füllen.

      „Was halten sie davon Commissaire Reno?“ Mein Vater wendet sich an den Beamten in Zivil. Er muss sich noch einmal räuspern, aber seine Stimme ist schon viel fester geworden. „Wir teilen uns in vier Gruppen auf und kämmen die Uferlinie und das Hinterland in beiden Richtungen ab. Nach Westen bis hin zum Les Sables und nach Osten bis St.Maxime.“

      „Machen sie das“, der Commissaire nickt mit ernstem Gesicht. „Beamte mit Hunden habe ich schon angefordert. Auch ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera ist auf dem Weg hierher. Ich werde in der Zwischenzeit hier die Befragung der Zeugen durchführen, hauptsächlich der Mädchen, die gestern auch im Les Sables waren.“

      Mein Vater nickt, flüstert Felix’ Vater ein paar Worte ins Ohr und drückt dann leicht mit der Hand seine Schulter. Mr. Dagget sieht etwas verwirrt zu ihm auf und nickt leicht mit dem Kopf.

      „Also los!“ ruft Papa und nähert sich der Menschenmenge. „Wer geht mit und wer führt die einzelnen Gruppen an? Monsieur Bar... äh Georges, ich brauche auch Sie, Sie kennen sich hier am besten aus.“

      Monsieur Bardane drängt sich eifrig durch die Menge, gefolgt von Fleurs Vater. Auch Paulines Vater kommt mit ernstem Gesicht heran. Bald haben sich Gruppen mit Männern, Frauen und auch Kindern und Jugendlichen gebildet.

      „Ich gehe auch mit, Lana, ich finde sie!“ Didier geht entschlossen zu der Gruppe, die Papa leitet, dreht sich auf halbem Weg noch einmal um und winkt mir schüchtern zu. Ich glaube, es ist das erste Mal in unserem Zusammenleben, dass ich das Bedürfnis habe, meine kleine Ratte liebevoll zu knuddeln.

      Ein polizeiblauer Lieferwagen kommt den Weg entlang. Gleich vier Beamte steigen aus und melden sich mit ihren Suchhunden bei dem Commissaire.

      Die Beamten werden den Suchgruppen zugeteilt und die Menge zerstreut sich in Richtung Strand. In vielen Gesichtern sehe ich neben der Hoffnung auch Erleichterung. Endlich kann man etwas Sinnvolles tun!

      Müde sitzen Felix Eltern nebeneinander am Tisch. Sie starren nur noch mit maskenhaft leeren Gesichtern und trüben Augen vor sich hin. Mr. Dagget hat einen Arm um die Schultern seiner Frau gelegt und streicht ihr immer wieder mechanisch über den Arm.

      Endlich! Denn das war mit das Schlimmste an ihrem Anblick vorhin, dass jeder für sich allein saß und trauerte, ohne dem anderen Hilfe und Halt zu geben.

       20 DER IDIOT

      Zufrieden saß der Idiot auf