Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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Er hatte zwischen zwei Felsbrocken im Gras gelegen und dunkelrot im Sonnenlicht geglüht. Es war genau die Stelle, an der der Stier gegen die Felsen gestoßen war. Schnell hatte der Idiot sich umgewandt. Die Alte war ein gutes Stück hinter ihm gewesen. Rasch hatte er sich gebückt, den Stein aufgehoben und ihn in seiner Hosentasche verborgen. Die Frau schien nichts bemerkt zu haben.

      Der Hof war nicht allzu weit von der Ziegenweide entfernt, aber es dauerte lange, bis sie dort ankamen. Die Alte war langsam gewesen. Sie hatte Schmerzen. Der Idiot hätte sie gerne gestützt, aber das war undenkbar. Sie schleppte sich nur sehr langsam hinter ihm her. Sie war so klein und zart, er hätte sie ohne weiteres tragen können, wie eine kranke Ziege, doch der Hof war viel zu nah. Man hätte sie doch sehen können, und dann würden sie ihn wieder schlagen. Aber wenigstens den Weg hatte er ihr zeigen können, indem er vorausging. So hatte sie sich Stück für Stück hinter ihm hergeschleppt, bis sie den Hof endlich erreicht hatten.

      Der Bauernhof war sehr groß, fast schon ein Landgut. Er bestand aus etlichen Häusern, in denen viele Menschen wohnten. Etwa dreimal die Finger beider Hände.

      Der Idiot hatte sich eine besondere Zählweise ausgedacht, für die er seine Hände benutzte: Der Daumen der ersten Hand war der Patron und der Zeigefinger war der Prediger. Weiter ging es mit der Frau des Patrons, dem Großknecht und dem Koch. Jeder Finger hatte seine Bedeutung und symbolisierte bestimmte Personen, mit denen der Idiot es zu tun hatte. So hatte er sich ein System geschaffen, um sich die Namen aller Bewohner des Hofes zu merken. Zu allen Zeiten waren dann immer noch zwei, drei Finger übriggeblieben, von denen einer er selbst war. Der Idiot hatte sich dafür entschieden, dass er der kleine Finger der letzten Hand war, damit er bei der Zählerei nicht durcheinander kam.

      Als sie den Hof erreichten, waren alle angelaufen gekommen. Zum Glück war keiner böse mit ihm gewesen und auch die Alte hatte ihn nicht verraten. Ganz im Gegenteil, sie hatten ihn gelobt. Der Patron hatte sogar den Koch angewiesen, ihm ein paar richtig gute Sachen mitzugeben, dann hatte man ihn aber gleich wieder weggeschickt, weil niemand außerhalb des Hofes etwas von seiner Existenz wissen durfte.

      Der Idiot wusste nichts von der Welt und die Welt wusste nichts von ihm. Viele Sommer lang hatte man geheimgehalten, dass es ihn gab. Niemals hatte er eine Schule oder einen richtigen Arzt besucht, und wenn Fremde auf den Hof gekommen waren, hatte er sich immer verstecken müssen. Das hatte ihm nie etwas ausgemacht. Seine Welt war in Ordnung, heute erst recht, wo er diese Schätze sein Eigen nennen konnte. Besonders der eine Schatz, der Zauberstein, faszinierte ihn. Vorsichtig hob er ihn mit beiden Händen vor seine Augen und schaute hindurch. Die Welt veränderte sich dadurch auf magische Weise. Wo vorher nur graue Felsen gewesen waren, leuchtete ihm jetzt ein völlig anderes, intensiv rotes Gebirge entgegen.

      Der Idiot lachte begeistert auf und sah sich mit bloßem Auge um, alles war grau. Er nahm den Stein vor die Augen und alles erstrahlte in einem wundervollen Rot. Er wiederholte das Spiel noch etliche Male, schaute aber immer wieder misstrauisch zu Giles hinüber. Plötzlich kam er auf die Idee, Giles durch den Zauberstein zu betrachten. Knallrot stand der verhasste Leitbock auf einer roten Wiese und fraß rotes Gras. Der Idiot schrie vor Vergnügen laut auf.

      Vergessen war die verschwundene Ziege, wegen der er heute Morgen so früh in den Bergen gewesen war. Der Idiot saß nur da und freute sich an diesem unglaublich wertvollen Schatz. Als die Melker am Abend mit ihren klappernden Blecheimern kamen, hatte er kaum etwas Anderes getan, als die Welt rot zu machen, wann immer es ihm gefiel.

       21 DIE VERNEHMUNG

      Commissaire Reno winkt uns zu sich und betrachtet mit seinen hellbraunen Augen gleichzeitig aufmerksam und traurig unsere verheulten Gesichter. „Wir gehen in die Bar, da sind wir ungestört“, murmelt er

      Während er sich zum Gehen umwendet, schaut er mit gerunzelter Stirn zum Himmel und befiehlt mir dann: „Zieh dir erstmal was über, du bibberst ja jetzt schon!“ Sein eigentlich eher ernstes und kritisches Gesicht verzieht sich zu einem freundlichen Lächeln, während er mich anblickt.

      Gehorsam nicke ich und gehe davon um mich umzuziehen, während er mit Pauline und Celine schon mal in die Bar geht. Ich zittere tatsächlich so stark, dass meine Zähne aufeinander schlagen.

      Als ich bei unserem Stellplatz ankomme, könnte ich schon wieder heulen. Alles dort sieht so friedlich aus. Unser alter Wohnwagen mit dem leicht im Wind flatternden, verblichenen Vorzelt, unsere Klappstühle und der alte Campingtisch darunter. Darauf das unbenutzte Frühstücksgeschirr, das Maman heute früh schon dort hingestellt hat. Die Wäscheleine mit unseren Handtüchern, die im schwachen Wind hin und herwehen und das Zelt von mir und meinem Bruder. So wie Urlaub eben. So harmlos. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Ich reibe mir die aufkommenden Tränen aus den Augen, hänge mein Handtuch auf die Leine und krabbele in meine Schlafkabine, um mich umzuziehen.

      Am liebsten würde ich mich in meinen Schlafsack verkriechen und schlafen, schlafen, schlafen. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, unbeschwert aufzuwachen und nichts von alledem wäre passiert. Lustig und vergnügt könnten wir alle gemeinsam den Tag genießen. Mit Felix zusammen!

      Warum haben wir nur an diesem unseligen Wettbewerb teilgenommen? Aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass das alles nicht passiert wäre, wenn Felix nicht gestern Abend im Les Sables den dritten Platz belegt hätte. Ich habe das sichere Gefühl, dass irgendwer dadurch auf sie aufmerksam geworden ist, der sie ansonsten gar nicht bemerkt hätte.

      ‚Nie wieder nehme ich an so was teil’ schwöre ich mir, während ich mir einen Slip, meine Shorts und ein Sweatshirt anziehe und in meine Turnschuhe schlüpfe. Langsam wird es mir etwas wärmer. Ich krabbele aus unserem Zelt und sehe, dass die Wolken, die vom Land her zur Küste ziehen, noch dunkler geworden sind, so als wollten sie die Düsternis dieses Morgens noch unterstreichen.

      Commissaire Reno sitzt mit Pauline und Celine in der Bar an einem Tisch in der hintersten Ecke. Während ich auf sie zugehe, sehe ich Barnabé, wie er gerade mit einem Tablett herankommt und mit ernstem Gesicht die Getränke auf dem Tisch verteilt. Als er mich kommen sieht, stellt er sein Tablett ab, kommt auf mich zu und nimmt mich stumm in den Arm. Dann schiebt er mich etwas von sich weg, so wie Diego es heute Morgen mit mir gemacht hat. Da war alles noch ganz anders und die Welt war schön. Schon wieder kommen mir die Tränen. Mitleidig schaut er mir ins Gesicht und fragt leise: „Was möchtest du trinken, Lana?“

      „Nichts!“ Ich kann nur flüstern.

      „Dann bringe ich dir eine heiße Schokolade, die wärmt dich etwas auf“, erwidert er bestimmt.

      Commissaire Reno streicht sich gerade über seine Halbglatze und notiert mit einem silbernen Kugelschreiber etwas in eine schwarze, kleine Kladde. Er schaut auf und sagt zu mir: „Setz dich Lana, hast du schon was bestellt?“ Ich nicke stumm und ziehe mir einen Sessel heran.

      „Gut, dann wollen wir den gestrigen Abend noch einmal der Reihe nach durchgehen.“ Reno holt aus der Brusttasche seiner Jacke eine Packung Gitanes, entnimmt ihr eine Zigarette und klopft ein Ende davon auf die Packung, während er konzentriert in seine Kladde blickt. Er holt ein Feuerzeug aus der Jackentasche und steckt sich die Zigarette zwischen seine schmalen Lippen. Schließlich schaut er auf und wird sich wohl bewusst, dass Rauchen in dieser Gesellschaft nicht angebracht ist. Er steckt das Feuerzeug wieder in seine Jackentasche und legt die Zigarette neben die Gitanes-Packung auf den Tisch.

      „Nun, also“, sagt er schließlich, „ihr seid zusammen im Les Sables eingetroffen?“ Während er mit der Spitze des Kugelschreibers auf eine Seite der Kladde klopft, schaut er uns mit seinen merkwürdig hellbraunen Augen durchdringend an. Dabei zieht er eine Augenbraue hoch, wodurch sich seine hohe Stirn in Falten legt. Er streicht sich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand über seinen grauen kurzen Stoppelbart. Das erzeugt ein schabendes Geräusch, das ich im Laufe der Befragung noch öfter höre.

      „Nein“, Celine räuspert sich, „ich bin mit Pauline und Felix im Shuttlebus gefahren, Lana kam später. Sie musste noch was besorgen.“

      Renos aufmerksame Augen richten sich fragend auf mich und ich fühle mich verpflichtet zu erklären: „Ich brauchte