Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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danke!“ brummt Reno, steht auf, öffnet seine Brieftasche und gibt jeder von uns eine Visitenkarte. „Ihr könnt mich jederzeit anrufen, wenn euch noch etwas einfällt.“ Er sieht uns alle noch einmal ernst an. „Gebt die Hoffnung nicht auf, wartet erst mal ab!“ Mit diesen Worten geht er davon.

      Pauline nimmt mit angeekeltem Gesicht und spitzen Fingern seinen Zigarettenstummel, der immer noch im Aschenbecher stinkend vor sich hinqualmt und drückt ihn richtig aus. Schweigend und ratlos sitzen wir am Tisch.

      Barnabé und seine Frau gesellen sich mit ernsten Gesichtern zu uns. „Verdammt! Warum haben wir sie bloß nicht mitgenommen?“, bricht es plötzlich aus mir heraus.

      Barnabés Frau schüttelt den Kopf und legt tröstend einen Arm um mich, während Barnabé zischend zwischen den Zähnen hindurch stößt: „Welches Schwein war das? Immer wieder passiert so was, hier in Grimaud.“

       22 LOKALNACHRICHTEN

      Fleur, Pauline und ich verziehen uns an den Strand und sitzen dort traurig im Sand. Unsere Gedanken sind so gelähmt, dass keine Unterhaltung möglich ist. Wir sitzen nur da und starren aufs Meer, das mittlerweile wieder etwas freundlicher aussieht, weil die Sonne sich einen Weg durch die Wolkenwand gebahnt hat.

      Gegen Mittag holt uns Fleurs Mutter zum Essen. Unsere Mütter haben für alle ein paar Snacks zubereitet. Das ist ihre Art, der Hilflosigkeit zu entfliehen, die uns im Moment so sehr lähmt.

      Die Zeit vergeht und nichts passiert. Der Schock weicht nach und nach den ersten Gefühlen der Hoffnungslosigkeit. Wir beginnen, den Glauben an ein gutes Ende zu verlieren.

      Es ist schon früher Nachmittag. Felix hätte sich garantiert schon gemeldet, wenn sie es könnte. Die Polizei hat alle Krankenhäuser in weitem Umkreis abgefragt. Nein, kein Mädchen, das Felix auch nur entfernt ähnlich sieht, ist eingeliefert worden. Was sollen wir nur machen?

      Nach und nach kommen die Suchtrupps zurück. In ihren niedergeschlagenen Gesichtern spiegelt sich die Enttäuschung darüber, dass sie nichts finden konnten.

      Das Stück Weg vor dem Wohnmobil der Daggets füllt sich langsam mit Menschen. Alle sind sehr ruhig, auch Felix´ Eltern, die eine Misserfolgsmeldung nach der anderen mit unbewegten Gesichtern entgegennehmen. Mister Dagget bringt es sogar fertig, den Suchtrupps, die zurückkommen zu danken.

      Die Gruppe meines Vaters kommt auch schon über den Strand. Didier rennt auf mich zu. „Ich hab es dir versprochen Lana“, keucht er atemlos, „aber sie war nirgends zu finden, auch die Hunde haben sie nicht gefunden, Lana. Ist sie tot?“ Mit bebenden Lippen sieht er mich an.

      Ich nehme meinen Bruder in die Arme und komme mir plötzlich so erwachsen und verlogen vor, als ich genau das sage, was meine Eltern mir sagen würden, um mich zu trösten, obwohl ich doch selber gar nicht daran glaube: „Nein, das können wir nicht sagen, vielleicht ist sie ja ganz woanders und deshalb konntet ihr sie nicht finden.“

      Didier befreit sich aus meiner Umarmung. nimmt meine Hand und zerrt mich entschlossen von den anderen weg. Hinter ein paar Oleanderbüschen bleibt er stehen und schaut mich mit vorwurfsvoll in die Hüften gestemmten Händen an. „Lana, du redest wie Papa und Maman. Ich weiß, du denkst ich bin dumm, aber das bin ich nicht. Wenn jemand so plötzlich verschwindet, dann ist ihm was passiert. Sag es mir ehrlich, glaubst du, dass Felix tot ist?“

      Ich schaue meinen Bruder an und sehe ihn zum ersten Mal. Das ist nicht die kleine Ratte, mit der ich hierher gefahren bin. Er meint das was er sagt wirklich ernst.

      Seufzend lasse ich mich im Schneidersitz auf das trockene Gras nieder und auch Didier setzt sich und lässt seinen Kopf hängen.

      „Ich hab dir auch alles erzählt, was ich von Pascal und Papa gehört habe“, sagt er schließlich und zupft dabei ein paar dürre Grashalme aus dem Boden. „Jetzt sei du auch ehrlich zu mir und behandele mich nicht, wie ein Baby, das man trösten muss!“

      „Nein! Ich glaube es nicht, weil ich es nicht glauben kann!“ Ich schaue Didier an und wiederhole bestimmt: „Felix ist nicht tot! Es ist etwas Schlimmes mit ihr passiert, ja, aber ich glaube einfach nicht, dass sie tot ist!“

      „Warum weinst du dann Lana?“

      Diese einfache Frage kommt so leise und vorsichtig, dass mir nun erst recht die Tränen laufen. „Weil ich andauernd denke, wir hätten sie mitnehmen sollen. Warum haben wir sie einfach dort allein gelassen? Verstehst du?“

      Didier nickt. Er schaut zu Boden und pult mit einem Stöckchen in der Erde herum. „Also müssen wir weitersuchen, oder die suchen, die sie mitgenommen haben“, seufzt er schließlich. Plötzlich schaut er mich aufmerksam an und fragt mit gerunzelter Stirn: „Aber der Typ, den du da gestern an der Bühne umarmt hast, der hat doch nichts damit zu tun, oder? Er ist doch kein Drogendealer?“

      „Diego? Nein!“ fast brülle ich diese Antwort. Didier schaut mich erschrocken an. Ich springe auf. Entsetzen macht sich in mir breit, denn mir wird mit einem Mal bewusst, dass ich nichts, aber auch absolut nichts von Diego weiß. Und er war gestern Abend auch in der Disco!

      „Na bist dir wohl doch nicht mehr so sicher mit deinem Lover?“

      Ich brauche mich nicht umzusehen, um mich zu vergewissern, wer mich da anpöbelt. Pascal!

      „Hat wahrscheinlich deiner Felix Drogen eingetrichtert, sie vergewaltigt und ist jetzt in aller Seelenruhe dabei, ihre Leiche zu besei...

      Weiter kommt er nicht, ich wirbele herum und knalle ihm mit voller Wucht meine ausgestreckte Hand auf die Wange, dass es nur so klatscht.

      Erstaunt schaut er mich an und reibt sich den rot anlaufenden Abdruck meiner Hand. „Das wirst du noch bereuen!“ zischt er mit böse blitzenden Augen, wendet sich um und geht.

      „Nein, du wirst es bereuen, du Arschloch!“ brülle ich ihm aus Leibeskräften hinterher und fange plötzlich an zu zittern.

      Mein Bruder tritt neben mich. „Wow, ein guter Schlag, aber das gibt Ärger“, murmelt er, während er Pascal hinterher sieht. „Ich guck mal, was er jetzt macht!“ Mit diesen Worten rennt er davon. Plötzlich stoppt er ab und kommt noch mal zurück. Unsicher schaut er mich an. „Nicht sauer werden Lana, ich will es nur ganz genau wissen: du glaubst nicht, dass der Diego da mit drinhängt?“ Er schaut mich so offen und gleichzeitig ernsthaft an, dass mir bei all der inneren Kälte mit einem Mal ganz warm wird.

      „Didier, ich liebe ihn, ich glaube es nicht!“ antworte ich genauso ehrlich, „aber kann ich es denn nach so kurzer Zeit auch wirklich wissen?“ Verzweifelt hebe ich die Schultern. Was soll ich denn sagen? Ich weiß doch eigentlich gar nichts über Diego.

      „Ist schon okay“, meint Didier bestimmt, dreht sich um und flitzt davon.

      Ist schon okay? Woher plötzlich sein Vertrauen? Ich weiß es doch selber nicht. Ich glaube es einfach nicht, dass Diego etwas mit dem Verschwinden von Felix zu tun hat, aber die Gewissheit wäre mir schon lieber. Ich würde so gerne mit ihm reden, ihm all das erzählen.

      Ich hatte so gehofft, dass Diego heute irgendwann mal am Strand auftauchen würde. Ich hätte so gerne mit ihm darüber gesprochen, ihm alles erzählt und am dringlichsten von allem wissen wollen, dass er wirklich nichts mit der ganzen Sache zu tun hat. Schließlich hat er gestern auch mit Felix gesprochen, das hat er selbst gesagt, und ich habe mich nicht getraut, Commissaire Reno davon zu erzählen. Warum nicht? Was denke und glaube ich wirklich? Was weiß ich überhaupt von Diego? Ich muss unbedingt mit ihm reden!

      Pauline und Fleur kommen den Weg entlang und ich schließe mich ihnen an. Wir gehen zum Strand. Was könnten wir sonst auch machen? Während ich mit ihnen im warmen Sand sitze, halte ich immer wieder nach Diego Ausschau.

      „Na, kommt er nicht? Vielleicht hat er ja doch ein schlechtes Gewissen! Ist ja schon irgendwie ein ziemlich schmieriger Kerl.“ Celine hat sich mal wieder herangepirscht und meine Blicke wohl bemerkt. Oh Mann, hört das denn nie auf?

      „Ja klar, ich hab mich mit Freddy Krüger persönlich