Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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und sich über ihren ersten Platz gefreut, wie ein Kind, was sie ja fast auch noch war.

      Lana war glücklich gewesen, mit ihrem zweiten Platz, und das war für Diego alles, was zählte. Ungeduldig hatte er darauf gewartet, dass Lana zu ihm kam, und als es dann so weit gewesen war, hatte er sie in seine Arme genommen und geküsst.

      Immer wieder durchlebte Diego diesen winzigen Moment, der all seine Hoffnungen und all seine Befürchtungen in sich vereinigte. Da war die Reaktion seines Körpers gewesen: Eine Welle heißen Verlangens nach mehr, nach niemals endender Zärtlichkeit. Und Lana hatte ganz genauso empfunden, das hatte er genau gespürt. Es war ein gutes Gefühl gewesen. Lanas Vertrauen und ihr Verlangen waren auf ihn eingestürmt und hatten ihn völlig in Besitz genommen. Einen Moment lang hatte er glauben dürfen, dass nun alles gut werden würde und dass der Alptraum endlich vorbei war.

      Es war wie ein schöner, lang gehegter Traum gewesen, der nun endlich in Erfüllung gehen konnte. Sie hatte sich ihm schenken wollen, mit ihrem Körper, ihrer Seele, ihrem Leben, und plötzlich war etwas von ihr zu ihm herübergeströmt, das er zu kennen glaubte. Voller Panik hatte er sie schnell zurückgeschoben.

      Sie hatte es nicht verstanden. Wie auch? Niemand konnte das verstehen. Sie hatte nur seine plötzliche Unsicherheit bemerkt und schlagartig begriffen, dass er sich verändert hatte. Sie war traurig gewesen, aber er hatte ihr nicht helfen können, und er hatte die erste Gelegenheit genutzt, heimlich durch den Notausgang der VIP-Lounge zu verschwinden.

      Das Leder des Lenkradkranzes fühlte sich kühl an auf Diegos Stirn. Nach diesem Abend würde Lana nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Diese Erkenntnis nagte und wühlte in ihm. Er hatte es verdorben. Diese Flucht und seine Feigheit waren unverzeihlich und der größte Gefallen, den er Lana und sich selbst tun konnte, war, sie nie wieder zu sehen.

      Diego drehte den Zündschlüssel und mit dem typisch heiseren Motorgeräusch sprang der Porsche an. Er ließ den Wagen auf die Straße gleiten. Er musste zum Meer!

      Als er Adrianos Wagen vor der Disco stehen sah, fuhr er für einen winzigen Moment langsamer und war versucht, in das Les Sables zurückzukehren. Da er Adrianos Vorlieben kannte, fuhr er dann aber doch weiter. Lana war absolut nicht der Typ, den sein Cousin bevorzugte. Sie war nicht in Gefahr.

       19 FELIX FEHLT

      Ich bin geschwommen, wie jeden Morgen, aber es war heute nicht derselbe Genuss wie sonst. Irgendwie dringt im Moment nichts anderes in mein Bewusstsein, als der Gedanke an Diego.

      Nach dem Duschen bin ich an den Strand zurückgekehrt. Nun sitze ich hier auf meinem feuchten Handtuch im warmen Sand, lasse mir die immer wärmer werdende Sonne auf die Haut scheinen und denke über gestern Abend nach. Ich suche im Sand neben mir nach Muscheln und kleinen Steinen, drehe sie zwischen den Fingern und spüre ihre vom Wasser abgerundete Weichheit. Gedankenverloren werfe ich sie beiseite und suche das nächste Objekt, mit dem ich spielen kann, um meinen ruhelosen Händen etwas zu tun zu geben und mich von meinem innerlichen Beben abzulenken.

      Gestern, das war alles so aufregend und verwirrend, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte. Immer wieder sehe ich Diego vor mir, wie er auf mich zu kommt und mich an sich zieht. Immer noch spüre ich seine unglaublich weichen, sanften Lippen auf meinem Mund.

      Ein Schauer durchläuft mich und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mehr davon zu bekommen, ihn wieder zu sehen und geküsst zu werden von diesen zärtlichen Lippen.

      Ein leises Geräusch schreckt mich aus meinen warmen Gedanken. Ich schaue zur Seite und sehe, wie Dusty sich ganz selbstverständlich neben mich setzt, mir seinen struppigen Kopf mit den zotteligen Augenbrauen zuwendet, seine witzigen Klappohren etwas hochstellt und mich mit seinen braunen Augen aufmerksam und verständnisvoll anschaut.

      „Na Dusty“, begrüße ich ihn und lege meinen Arm um seinen Rücken, um ihn an der Brust zu kraulen. Dabei drückt er sich ganz leicht und vertrauensvoll an mich.

      „Wie ist es dir denn so ergangen? Ich hab viel erlebt seit gestern Morgen!“ Dusty lässt sich von mir kraulen, gähnt leise fiepend mit weit aufgerissenem Maul, niest einmal kräftig und schnauft dann leise, während er mich mit seinen braunen Augen fragend anschaut. Es scheint fast, als würde er wirklich überlegen, was er denn so erlebt hat.

      Gemeinsam schauen wir gedankenverloren auf das stille, klare Meer. So früh am Morgen ist es noch ganz glatt, nur ein ganz leichter Wellenschlag ist zu hören. Gemeinsam beobachten wir eine große weiße Yacht, die dem Horizont zustrebt.

      Es tut richtig gut, diesen Hund neben mir zu haben. Ihm scheint es auch zu gefallen, einfach mal so dazusitzen, mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein.

      „Weißt du, ich mag Diego, sehr!“ erkläre ich ihm, „er ist so, ach ich weiß nicht, anders als alle Jungen, die ich bisher getroffen habe, so irgendwie geheimnisvoll, so ... Seine Ausstrahlung, sein Lächeln, so intensiv. Er berührt mich, ohne mich zu berühren, verstehst du?“ Ich schaue in Dusty’s aufmerksame, braune Hundeaugen und komme mir dabei irgendwie doch ein bisschen gestört vor, dass ich einem Hund mein Herz ausschütte. Aber es sieht ja keiner, und Dusty ist ein guter Zuhörer.

      Plötzlich wird er unruhig und fängt an, leise zu fiepen. Winselnd steht er auf und dreht sich weg. „Was ist denn mit dir?“ versuche ich ihn aufzuhalten, aber er klemmt den Schwanz ein und läuft in Richtung Campingplatz davon. „Dusty!“ rufe ich hinter ihm her, aber er reagiert gar nicht, sondern rennt, als ginge es um sein Leben.

      Zwischen den Zelten und Wohnwagen hindurch sehe ich, wie ein blauer Polizeiwagen langsam über den Platz rollt. Was will der denn hier? Na, wahrscheinlich ein Einbruch irgendwo. Wohnwagen sind leicht zu knacken, und so was kommt leider ab und zu vor. Unwichtig! Monsieur Bardane wird’s sowieso berichten.

      Dusty kommt nicht zurück. Er verschwindet gerade unter ein paar Büschen. Enttäuscht wende ich mich wieder dem Meer zu und mein Herzschlag setzt einen Moment lang aus. Völlig unerwartet taucht ein Kopf aus dem Wasser auf. Hier war doch eben kein Mensch! Ich war mit Dusty ganz alleine. Ich bin mir absolut sicher, dass niemand zum Schwimmen ins Meer gegangen ist und schließlich kann es ja nicht sein, dass jemand einfach so aus der Tiefe des Wassers auftaucht. Ich sitze mit leicht zusammengekniffenen Augen am Strand und beobachte den Schwimmer, der da so plötzlich in den Wellen ist. Mein Herz stolpert, denn schon aus der Entfernung erkenne ich, wer es ist: Diego!

      Diego blickt auf und sieht mich. Schnell wendet er sich um und will wieder fort vom Ufer. Ich frage mich warum, und rufe gleichzeitig „Diego?“

      Er sieht sich um und winkt mir zu, etwas zögerlich, wie mir scheint. Langsam kommt er auf den Strand zugeschwommen. Seine Schwimmbewegungen sind kräftig aber verhalten. Man merkt, er könnte schneller, wenn er wollte. Aber aus irgendeinem Grund will er nicht so schnell an den Strand kommen. Ist es wegen mir? Bereut er das, was er gestern getan hat? Hat er es sich anders überlegt? Oder schlimmer noch: hat er vielleicht gar nicht mitbekommen, dass mich mein Vater abgeholt hat?

      Vielleicht ist er freudestrahlend mit ein paar ergaunerten Snacks stolz aus der VIP-Lounge zurückgekommen und wer war nicht mehr da? Ich! Er war enttäuscht und will mich nun nicht mehr sehen. So wird es sein. Warum sonst wollte er eben einfach wieder so verschwinden? So sah es doch aus. All das geht mir in Sekundenschnelle durch den Kopf. Aber hinter all diesen Fragen pocht noch ein riesengroßes Fragezeichen: Wo zum Teufel kommt Diego überhaupt her? Wann ist er ins Wasser gegangen, und wo?

      All diese Fragen sind aus meinem Kopf verschwunden, als er sich schließlich aus der sacht wiegenden Brandung erhebt. Er entsteigt den Fluten, als wären sie sein Element. Wo andere durch die ans Ufer schlagenden Wellen stolpern, schreitet er einfach voran. Seine gebräunte, nasse Haut glitzert im Sonnenschein. Mit einer fast schüchtern wirkenden Bewegung streicht er sich die feuchten, dunklen Haare aus dem Gesicht und kommt auf mich zu. Sein Mund lächelt, aber seine Augen schauen traurig. Warum, frage ich mich und mein Herz beginnt gleichzeitig zu stolpern und zu rasen.

      „Hallo Lana, war das dein Hund?“

      „Äh“, erwidere ich leicht irritiert, denn irgendwie hatte ich