Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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ausreden lassen und ihn nur angegiftet. Ich starre die leere Ausfahrt des Neptune an. Zu spät Lana, vielleicht ist es auch besser so.

      Etwas verkrampft sich in meiner Brust, und ich seufze schwer auf, als ich langsam weitergehe. Ich will nur noch eins, mich in mein Zelt verkriechen und schlafen, alles vergessen. Aber leider kommt alles ganz anders.

      Meine Eltern erwarten mich mit ernsten Gesichtern, als ich zu unserem Stellplatz komme. - Na klasse, was ist jetzt wieder?

      „Pascal war hier und hat uns Fotos gezeigt“, verkündet mein Vater. - Was für ein toller Empfang.

      „Ach ja? Wie schön“, ist alles was ich darauf erwidern kann. „Könnt ihr mir gleich erzählen, ich muss erstmal mit den Daggets sprechen.“ Planänderung, nicht schlafen, nur weg hier. Das mit den Daggets ist zwar nur eine Ausrede, aber mir wird mit einem Mal klar, dass ich sie doch darüber informieren müsste, was ihrer Tochter passiert ist. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das anfangen soll, drehe ich mich um und gehe weiter.

      „Die Daggets sind weg“, ruft mein Vater hinter mir her.

      „Was?“ Ich drehe mich um und gehe langsam zu meinen Eltern zurück. „Wieso weg?“

      „Reno hat sie nach Draguignan gerufen. Er glaubt, dass er Felix gefunden hat.“

      „Oh, Mist!“

      „Was sagst du?“ Mein Vater schaut mich völlig verständnislos an. „Deine Freundin ist wieder da! Ich habe gedacht, dass dich das freut.“

      „Tu... tut es ja auch“, lüge ich schnell. „Aber Draguignan, das ist so weit weg. Ich meine, na, das ist doch gefährlich. Wie ist sie da bloß allein hin gekommen?“

      „Tja, das wissen wir auch nicht.“

      Papa scheint meine Ausrede nicht gewittert zu haben, aber mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass die Daggets jetzt vielleicht schon wissen, dass sie eine Greisin zur Tochter haben. Ich fühle mich, als würde ich ertrinken. Das war heute alles zu viel. Dieser ganze Mist schlägt über mir zusammen und ich kriege kaum noch Luft, aber es kommt noch schlimmer:

      „Pascal hat uns Fotos gezeigt“, beginnt mein Vater von neuem. „Man sieht darauf, wie ihr euch küsst.“

      „Pascal und ich?“, versuche ich ein Ablenkungsmanöver, „im Traum nicht!“

      „Nein“, mein Vater runzelt die Stirn und verzieht gereizt den Mund. „Du und Diego!“ Er schaut mich aufmerksam an. Auch Maman beobachtet mich genau.

      Ich hasse diese Art von Befragung und erwidere trotzig: „Dieser blöde Pascal! Was geht ihn das an, in wen ich mich ...“ Im letzten Moment kann ich mich noch bremsen. Stimmt ja auch sowieso nicht mehr. Aber trotzdem, das war so ein schönes, erregendes Gefühl heute Morgen, als sich unsere Lippen berührten. War das wirklich erst heute Morgen?

      „Was?“ fragt meine Mutter lauernd.

      „Ach nichts!“ Ich drehe mich weg, denn schon wieder muss ich mit den Tränen kämpfen.

      „Dieser Diego fährt einen Porsche. Wieso kann er sich ein so teures Auto leisten? So langsam glaube ich doch, dass der Bursche nicht ganz sauber ist. Es wäre mir lieb, wenn du den Kontakt zu ihm ein wenig einschränken würdest“, meint Papa ernst.

      „Keine Sorge, ich habe kein Interesse mehr an ihm!“

      „Hat er dir was getan? Du bist so aufgeregt.“ Meine Mutter lässt mich nicht aus den Augen.

      „Nein. Bitte! Lasst mich einfach nur in Ruhe.“

      „Er hat dir doch was getan!“ Auch mein Vater schaut nun ganz besorgt und kommt einen Schritt auf mich zu.

      „Nein, verdammt noch mal!“, schreie ich plötzlich los. „Ihr sollt mich endlich in Ruhe lassen, könnt ihr das nicht verstehen?“

      Ich kann es selbst kaum glauben. Ich stehe hier mitten auf dem Campingplatz und brülle aus Leibeskräften meine Eltern an. Ein paar Gesichter aus der Nachbarschaft wenden sich uns zu. Die meisten schauen milde und nachsichtig, so, als wollten sie sagen: Wir haben es ja gewusst, jetzt ist die kleine Lana endgültig durchgeknallt. Hat halt schwache Nerven, das arme Würmchen. Kippt ja sogar in der Bar einfach so aus den Latschen.

      Mein Vater schaut sich unsicher um und die Leute sehen schnell weg.

      „Ich will jetzt schlafen!“, gebe ich bekannt und wende mich dem Zelt zu.

      „Was für ein Scheiß-Urlaub! Nichts als Ärger. Hätten wir sie bloß mit ihren Freundinnen fahren lassen“, höre ich Papa sagen, als ich aus den Schuhen schlüpfe und in meine Schlafkabine krabbele. Heftig ziehe ich den Reißverschluss hinter mir zu. Ich kann ihm nur zustimmen. Einfach die Zeit um eine Woche zurückdrehen und einen sauberen Neustart hinlegen. Ab an die Atlantikküste mit den Mädels aus meiner Schule, und nichts von alldem wäre so passiert, wie es jetzt geschehen ist. Felix wäre noch jung und gesund, Pascal säße mir nicht dauernd im Genick, es gäbe für mich keinen Diego, der mir das Leben auch nur schwer macht ...

      Keinen Diego? Will ich das denn?

      Im Zelt ist es heiß, viel zu heiß zum Schlafen. Müde und unschlüssig hocke ich im Schneidersitz auf meinem Bettzeug. Ich hätte an den Strand gehen sollen, aber da hätte ich am Ende Fleur und Pauline getroffen und lustig reden müssen und so tun als ob. Unmöglich. Ich ziehe mir meine vom Schweiß am Körper klebenden Sachen aus und schlüpfe in mein Schlafshirt.

      Schließlich strecke ich mich auf der Luftmatratze aus und starre durch das Fliegengitter an das Zeltdach. Die Schatten der Blätter eines Olivenbaumes tanzen auf der blauen Fläche im Wind, dazwischen sind Sprenkel von Sonnenlicht zu sehen. Das Geschrei der Zikaden verstummt langsam. Draußen höre ich, wie Didier vom Strand zurück kommt und unter lautem Protest zum Duschen geschickt wird. Schließlich höre ich ihn in seine Schlafkabine krabbeln. Er zieht sich jetzt wohl für Barnabé um.

      Mir wird ganz flau im Magen. Ich komme mir so dämlich vor. Warum kann ich nicht einfach aufstehen und auch mitgehen? Ich stelle es mir ernsthaft vor: Jeder dort würde mich fragen, wie es mir geht und ich müsste nett antworten. Ich könnte ja wohl kaum erzählen, dass ich gerade mit dem Kumpel von Felix´ Entführern unterwegs war, und dass man sie leider zur Greisin umgearbeitet hat. Nein unvorstellbar, da bleibe ich lieber in diesem Schwitzkasten.

      „Ich renn schon mal vor!“ ruft Didier und ich höre das sich entfernende Getrappel seiner Füße.

      Maman flüstert vor dem Zelt „Sollen wir sie nicht doch fragen Chéri?“

      „Nein lass sie mal schlafen“ flüstert mein Vater zurück. „Ich glaube sie ist ziemlich fertig!“ Ihre Schritte entfernen sich und mir kommen schon wieder Tränen in die Augen. - Warum denken die so lieb an mich, obwohl ich eben doch so gemein zu ihnen war?

      Vorsichtig öffne ich den unteren Teil des Reißverschlusses, damit wenigstens ein bisschen Luft in meine Kabine dringt. Den ganzen Tag lang habe ich nichts gegessen, also nehme ich den Deckel von der Plastikkiste, in der ich neben anderen Kleinigkeiten auch eine Flasche Wasser und eine Packung Kekse aufbewahre. Lustlos esse ich einen Keks nach dem anderen und spüle mit dem lauwarmen Wasser nach. Schließlich strecke ich mich wieder auf meinem Lager aus und starre die tanzenden Blätterschatten an, die in dem langsam schwindenden Licht immer schwächer werden.

      Die Ereignisse dieses Tages ziehen an mir vorbei, und ich versuche nicht mehr, sie gewaltsam zu verdrängen. Diegos weiche Lippen auf meinen, Pascal, der uns verfolgt, der Lastwagen, der Idiot in den Bergen, die wütende Meute mit diesem verrückten Inquisitor, die Fahrt in dem uralten Peugeot, Monsieur Lucas und schließlich unser Streit. Seufzend drehe ich mich auf die Seite und versuche einzuschlafen, um diese vielen verwirrenden Bilder endlich loszuwerden. Aber ich finde keine Ruhe.

      Nach einiger Zeit krabbele ich aus dem Zelt und schlüpfe in meine Flip-Flops. Es ist mittlerweile fast dunkel und der Wind ist erfrischend kühl. Ich atme tief die würzige Luft ein und schleiche mich vorsichtig über den Campingplatz zu dem Sanitärhäuschen. Weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg begegnet mir jemand.

      Im