Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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Grillen wirkt nach dem Lärm der Zikaden am Tag richtig beruhigend. In der Ferne höre ich den klagenden Ruf eines Käuzchens. Fetzen von Musik und Gelächter sind aus der Strandbar zu hören. - Dort haben sie jetzt alle Spaß. Ich komme mir mit einem Mal so einsam und ausgeschlossen vor. Ich habe das Gefühl, mit dem was ich weiß, kann ich nie mehr normal mit meinen Eltern und Freunden umgehen.

      Plötzlich weiß ich, was ich tun muss, um mich von diesem Gefühl der Schuld zu befreien. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Er ist der Einzige, mit dem ich reden kann, denn er muss von der Sache etwas wissen.

      Im Zelt suche ich im Licht meiner kleinen Taschenlampe meine Klamotten durch. Was hatte ich an dem Tag an, wo habe ich sie nur hin gesteckt? Schließlich habe ich gefunden, was ich suche: die kleine Visitenkarte. Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer und beglückwünsche mich gleichzeitig zu der guten Entscheidung, mein Handy nicht im Brunnen versenkt zu haben.

      „Ja“, meldet sich eine müde Stimme.

      „Commisaire Reno? Hier ist Lana, Lana Rouvier vom Camping Neptune!“

      Einen kurzen Moment ist es still am anderen Ende. Reno räuspert sich. „Ach ja, Lana, was gibt es denn? Ich wollte gerade Feierabend machen.“

      „Ich, ich, Sie ...“ Verdammt, was stottere ich denn so rum? Ich weiß absolut nicht, wie ich anfangen soll, denn mir wird mit einem Mal klar, dass ich ja auch Diego als Mitwisser belaste, wenn ich zu offen rede.

      „Fass dich kurz, wenn es geht!“, Renos Stimme klingt genervt und mürrisch.

      „Was ist mit Felix passiert, wieso ist sie plötzlich eine alte Frau?“ Kürzer geht es wohl nicht.

      Schweigen. „Woher weißt du das?“ Reno wirkt mit einem Mal hellwach.

      „Weil ich Felix gesehen habe im Fernsehen vor einem Krankenhaus und jetzt haben Sie die Daggets nach Draguignan geschickt.“

      „Ja, und?“ antwortet Reno nach kurzem Schweigen zögernd.

      „Commisaire Reno, Sie wissen was passiert ist und ich glaube, ich weiß es auch. Wer hat das getan, waren das die ...“ Ich zögere einen Moment, bevor ich dieses Wort ausspreche: „ ... die Darksider?“

      Ich höre ein Seufzen und dann das Klicken eines Feuerzeugs. Geräuschvoll atmet Reno aus. „Lana?“

      „Ja?“

      „Woher weißt du von denen? Sprich mit niemandem darüber, hörst du?“

      „Ja, aber, die müssen doch irgendwie bestraft werden, die, die das getan haben.“ Nervös beginne ich mit zitternden Fingern am Saum meines T-Shirts herumzuspielen.

      „Das regeln diese Leute unter sich, da kann ich nichts tun und du erst recht nicht. Hast du mich verstanden Lana?“

      „Ja, aber ...“

      „Nichts aber, du hältst die Klappe! Verstanden? Du bringst dich sonst in Gefahr und nicht nur dich, sondern auch deine ganze Familie! Hast du mich verstanden?“

      Reno spricht ganz ruhig und sehr eindringlich. Ich merke, dass es ihm ernst damit ist. – Tödlich ernst.

      „Aber das sind doch Verbrecher“, antworte ich lahm.

      „Nein“, widerspricht Reno. „Aber es gibt Verbrecher unter ihnen. Die haben ihre eigenen Gesetze und eigene Strafen. Die Täter werden nicht davonkommen, das ist sicher. Hauptsache du hältst den Mund über die Sache.“

      „Ja, okay, ich sage nichts.“

      „Gut! Nimm die Sache bitte ernst. War’s das?“ Reno klingt hörbar gereizt, deshalb beeile ich mich, das Gespräch zu beenden.

      Im Schein der Taschenlampe hocke ich auf meiner Luftmatratze im Zelt und starre mein Handy an. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich will auch nichts mehr verstehen. Das ist mir alles zu viel. Fröstelnd krieche ich unter die Decke, rolle mich zusammen und schließe die Augen, aber der Schlaf will immer noch nicht kommen.

       32 DER TURM

      Ein gutes Stück voraus ragte ein hoher, schlanker Turm aus der Ebene auf. Die Sonne stand schon knapp über dem Horizont und Lana würde sich beeilen müssen, wenn sie ihr Ziel noch erreichen wollte. Dass nur der Turm das Ziel sein konnte, war klar. Fremdartig und verlockend erhob er sich aus der einsamen Landschaft und Lana fragte sich, was für Geheimnisse er wohl bergen mochte. Sie wollte es wissen, deswegen war sie unterwegs und nichts würde sie davon abbringen, den Zugang zu suchen und dort einzudringen.

      Im letzten Schein der Abendsonne erreichte sie den Sockel des Bauwerks, das sich in dem milden, rötlichen Licht bis in den Himmel zu erheben schien. Es gab keine Tür, nur einen Durchgang, der in eine kleine, von Fackeln erleuchtete Halle führte. Lana trat ein.

      Der Raum war viel größer, als Lana zuerst gedacht hatte. Viele Wege gingen von hier aus tiefer in den Turm hinein, aber nirgends gab es einen Hinweis, wohin diese Gänge führen mochten.

      Lana war hier, um ein Geheimnis zu enträtseln. Es wurde Zeit, endlich Klarheit zu bekommen. Entschlossen suchte sie sich einen der schmalen Tunnel aus und machte sich ein wenig beklommen auf den Weg. Die Enge und das düstere Licht bedrängten sie. Sie war noch nicht weit gegangen, als vor ihr plötzlich eine steile Treppe in die Tiefe führte. Eigentlich hatte sie ja nach oben gewollt, zur Spitze des Turms, also trat sie in einen Seitengang und versuchte dort ihr Glück, doch schon ein paar Schritte später stand sie wieder vor Stufen, die hinab in undurchdringliche Schwärze führten.

      Lana wollte umdrehen, aber dort, wo eben noch der Gang gewesen war, hatte sich der Fels geschlossen. Den Weg zurück gab es nicht mehr. Dafür hatte sich ein neuer Tunnel geöffnet, der von schwachem Fackelschein erleuchtet wurde.

      „Lana!“ Das war Diegos Stimme. Weit entfernt und leise, aber unverkennbar.

      Lana ging in den Tunnel hinein und kam an eine Treppe, die noch viel steiler und schmaler war.

      „Lana!“, rief Diego aus der Finsternis unter ihr. Zögernd machte sie sich an den Abstieg.

      Es dauerte endlos. Die Stufen waren glatt und brüchig. Lana musste sich völlig darauf konzentrieren, nicht kopfüber in die Dunkelheit zu stürzen. Sie krallte ihre Fingernägel in den Fels der Wände, aber jeder Schritt weiter hinab war ein tödliches Risiko.

      „Lana!“, rief Diego wieder, und endlich war tief unten ein schwacher Lichtschimmer zu erkennen. Die Stufen waren nur noch schmale, in den Stein gehauene Stege. Es gab nichts, woran sie sich hätte festhalten können und sie merkte, wie ihr vor Angst und Anstrengung der Schweiß ausbrach. Umzukehren kam nicht in Frage. Diego war da unten und rief nach ihr. Sie musste einfach versuchen, zu ihm zu kommen.

      „Endlich!“ Plötzlich hatte sie das Ende der Treppe erreicht. Diego stand lächelnd vor ihr. „Wo hast du denn gesteckt? Ich warte schon auf dich.“

      Lana ging auf Diego zu und er nahm sie zärtlich in die Arme. Es war ein so schönes und warmes Gefühl, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, wo sie sich befand: Sie stand am Rand eines großen Raumes, in dessen Mitte so etwas wie ein Operationstisch aufgebaut war. Der Tisch war in gleißendes Licht getaucht, das von der Decke kam, während die Wände der Halle nicht zu erkennen waren. Außerhalb des Lichtkreises verlor sich alles in undurchdringlicher Schwärze.

      Diego legte einen Arm um Lanas Schultern und führte sie auf das Licht zu. Sie hatte Angst, sich dem Tisch zu nähern, aber sie ging trotzdem weiter. „Warum hast du mich hierher geholt?“

      „So ist es leichter für dich.“ Diego lächelte, umfasste ihre Schultern noch fester und schob sie sachte immer weiter in das Licht hinein. „Das hier ist ein sehr großes Labyrinth, aber irgendwann kommen sie alle hier an. Warum unnötig lange herumirren?“

      Lana wusste, was von ihr erwartet wurde. Obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte, ging sie zu dem hohen Operationstisch, setzte einen Fuß auf die umlaufende, dicke Chromstange und stemmte sich empor. Zitternd vor Angst legte sie sich auf die Tischplatte in