Detlef Köhne

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel


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Was? Nein, bin ich nicht. Mein Name ist Hein...« Weiter kam er nicht.

      Nervi war wieder da, und er hatte zwei weitere Typen, ziemlich bullige Kerle, als Verstärkung mitgebracht. Sie zerrten Heinrich und Rum rüde auf die Beine und hielten sie in eisernem Griff.

      »Du fällst mir jetzt bereits zum zweiten Mal unangenehm auf«, herrschte Nervi Heinrich an. »Unruhestifter, was? Ich werde dich in Hochwärts melden. Dein Name. – Was ist denn nun schon wieder?«

      Nervi wandte sich dem Quell eines plötzlich auftretenden Lärms zu. Ein dackelgroßes graues Tier kam den Bahnsteig hinuntergerannt. Ein kleinwüchsiger Junge mit topfförmigem Haarschnitt verfolgte das flüchtende Tier im Zickzack. »Trapdoor, halt!«, rief er und schoss geradewegs auf Heinrich, Rum, Nervi und die beiden Grobiane zu. Heinrich und Rum brachten sich gerade noch in Sicherheit, bevor der Junge sich mit einem gewagten Hechtsprung auf das Tier warf und dabei Nervi und die beiden anderen Jungen über den Haufen rempelte.

      »Los, wir verschwinden besser«, murmelte Rum, den allgemeinen Tumult nutzend, und zerrte Heinrich mit sich fort. Sie rannten um die nächste Hausecke und legten noch einen Häuserblock im Laufschritt zurück. Erst dann verlangsamten sie ihren Schritt. Der schwere Rucksack trug seinen Teil dazu bei, dass Heinrich am Ende des kleinen Spurts gründlicher außer Puste war als Rum, und schnaufend an eine Hauswand gelehnt stehen blieb.

      »Danke«, keuchte er. »Wer ist dieser Verrückte eigentlich und was will er dauernd von mir?«

      Rum lachte. »Wenn du wüsstest! Der Verrückte ist zu allem Überfluss auch noch mein Bruder.«

      »Echt? Na, da kann man ja nur gratulieren.«

      »Es gibt Schlimmeres. Ist immer noch besser, als Pickel am Hintern.« Rum lehnte sich an mit verschränkten Armen an eine Straßenlaterne und schaute Heinrich interessiert an. Er war in Heinrichs Alter und auch ungefähr gleich groß, wirkte aber etwas trainierter. Er hatte freundliche braune Augen und kurz geschnittene dunkelblonde Haare, die zerrauft in alle Himmelsrichtungen standen. Wie er so mit verschränkten Armen dastand und Heinrich grinsend musterte, strahlte er eine gewisse Lässigkeit aus. Lediglich sein Outfit wollte dazu nicht recht passen und war ein wenig bieder geraten. Die dunkle Stoffhose, das kurzärmelige karierte Hemd und die schwarzen Lederschuhe waren für einen Teenager nicht gerade der modisch letzte Schrei. Ein paar Jeans und ein cooles Shirt hätten besser zu ihm gepasst. Über der Schulter trug er eine beige Jacke.

      »Na, dann erzähl mal«, forderte er Heinrich auf. »Was stimmt mit dir nicht?«

      Heinrich grinste gezwungen. »Ich? Mit mir ist alles klar. Ich scheine nur seit zwei Tagen in einem immerwährenden Albtraum festzustecken, aus dem ich nicht wieder aufwachen kann. Ich bin in einer Stadt, die ich nicht kenne, und weiß weder wie ich hierhergekommen bin noch wie ich wieder wegkomme.«

      »Komisch, dass ausgerechnet du glaubst, hier falsch zu sein. Ich habe vorhin deine Narbe gesehen. Die Geschichte deiner blitzförmigen Narbe ist legendär. Schwurbelbart persönlich hat sich vor vielen Jahren deiner angenommen und dich vor Dem-dessen-Name-mir-gerade-nicht-einfällt in Sicherheit gebracht. Du bist Harry P...«

      »Nein, bin ich eben nicht«, unterbrach Heinrich. »Mein Name ist Heinrich Töpfer, auch wenn das übersetzt dasselbe ist. Und das da«, er wischte die Haare zur Seite und tippte sich an die Stirn, »ist keine Narbe, sondern nur ein bisschen Farbe.«

      »Wow, der Blitz«, staunte Rum ehrfürchtig.

      »Ich sage dir doch, es ist nur Farbe. In ein paar Tagen ist davon nichts mehr ...«

      »Wie Farbe sieht das für mich ehrlich gesagt nicht aus.«

      »Was?«, fragte Heinrich verwirrt und betrachtete sein Spiegelbild in einem Ladenfenster. Tatsächlich: Genau dort, wo der aufgeschminkte Blitz gewesen war, hatte sich nach seiner rüden Begegnung mit der Mülltonne auf dem Bahnsteig eine dicke Beule mit einem prächtigen Bluterguss gebildet, in dessen Mitte deutlich ein Blitz zu sehen war. Aber das war nicht mehr der grob aufgeschminkte Blitz von der Theateraufführung. Dieser hier war viel feiner und verästelter.

      »Na großartig«, sagte Heinrich resigniert lächelnd und wischte sich ein paar Haarsträhnen über die Beule. »Der ganze verdammte Planet hat sich gegen mich verschworen.«

      »Hey, bleib locker, Mann. Jeder ist scharf drauf, nach Hochwärts zu kommen. Wird bestimmt cool, wirst schon sehen.« Der Junge reichte Heinrich die Hand. »Also, noch mal richtig: Ich bin Rum, Rum Kiesnie, und auch neu hier.«

      Heinrich konnte nicht anders, als den unbekümmerten Rum von Herzen sympathisch zu finden. Er schlug ein. »Heinrich«, sagte er. »Heinrich Töpfer.«

      20

      »Freut mich, Alter.«

      »Mich ebenfalls, Rum. Aber nimm's mir bitte nicht übel: Ich wäre wirklich gerne woanders. Ich muss so schnell wie möglich weg von hier. Hast du eine Ahnung, wo wir genau sind und wohin die Züge fahren?«

      »Fahren?« Rum grinste schief. »Die Züge fahren nicht. Was du vorhin gesehen hast, war ein Museumszug. Früher hat es für die Schüler mal Sammeltransporte mit der Eisenbahn gegeben, aber als das Bahnpersonal bei Tarifverhandlungen einen eigenen Tarifvertrag durchsetzen wollte, hat man bei der Direktion die ganze Sache mal durchgerechnet. Dabei hat man bemerkt, dass es ganz schön hirnverbrannt ist, die ganzen Bälger erst mal über Hunderte von Kilometern aus sämtlichen Himmelsrichtungen zu einem Bahnhof zu schaffen, um sie dann von dort aus wieder Hunderte Kilometer weit durch die Lande zur Schule zu kutschieren, anstatt sie direkt dorthin zu bringen. Also hat man den Lokführer, die dicke Hexe, die im Zug den Süßkram verkauft hat und den Schaffner gefeuert, den Bahnbetrieb eingestellt und aus dem Zug ein Museum gemacht.«

      »Bahnreform mal anders, auch gut. Aber es muss doch Straßen geben, die von hier wegführen, Autobahnen, irgendwas!«

      »Keine Spur. Wozu auch? Mit den Flugmatten reist es sich doch viel bequemer.«

      »Aber wie komme ich dann hier weg?«, fragte Heinrich entgeistert.

      »Tja, ich schätze, gar nicht. Wenn du erst mal hier bist, gibt's bis Semesterende kein Zurück.«

      »Kein Zurück?! Das kann nicht wahr sein! Es muss doch eine Möglichkeit geben, aus dieser Nummer rauszukommen!« Heinrich war fassungslos. Dann kam ihm ein Gedanke. »Mein Handy! Natürlich! Ich rufe einfach zu Hause an und sage meinen Eltern Bescheid, dass sie mich abholen kommen. Sag', wo sind wir eigentlich genau?«

      Rum zuckte die Schultern. »Wo Sonschiet liegt, weiß keiner so genau. Du erreichst es nur mit Hilfe von Magie und kommst auch nur mit Magie wieder raus, weißt du? So ähnlich wie beim Möbiusband.«

      »Mann, das ist ja echt zum Verrückt werden. Egal, ich versuch 's trotzdem.« Heinrich nahm seine Jacke vom Rucksack und hoffte, dass das Telefon durch die ganze Herumrennerei und seine diversen Stürze durch wunderliche Tore nicht herausgefallen war. Nein, Gottseidank, da war es. Doch dann folgte die Enttäuschung: »Na, super. Ich habe in dieser Einöde kein Netz.« Er versuchte es über ein anderes Band, doch ohne Erfolg.

      Rum sah ihm neugierig zu. Man hätte meinen können, er habe nie zuvor ein Handy gesehen. »Krasses Teil«, sagte er beeindruckt. Was passiert, wenn du in das kleine Kästchen hinein sprichst? Antwortet es?«

      »Jetzt nicht mehr«, sagte Heinrich verzagt. »Ich glaube, ich bin endgültig abgeschnitten von zu Hause.«

      »Ein abgefahrener Zauberkasten. Du hast echt schon 'ne Menge drauf. Und das, noch bevor du Hochwärts überhaupt gesehen hast. Wie hast du dieses Zauberteil genannt?«

      »Hä? – Ach so. In meiner Welt nennen wir es Handy. Oh, Mann, meine Welt. Klingt beknackt, was? Aber mir kommt das wirklich wie eine andere Welt vor. Du erzählst mir was von magischen Akademien und magischen Toren, durch die die Leute von einem Ort in den nächsten plumpsen. Mann, was kommt als Nächstes? Da wird man ja krank im Kopf. Ich würde es nicht glauben, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen und selbst erlebt. Und ich glaube es trotzdem nicht. Ich glaube nur, dass ich allmählich