Detlef Köhne

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel


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nach kalter Wut.

      »Was für eine Riesenschweinerei!«, schrie die unbekannte schrille Mädchenstimme. »Wem gehört die verdammte Ratte?!«

      »Das ist meine«, rief Rum und winkte lässig grinsend mit der Hand. »Hierher, Kotze«, lockte er, worauf die entfleuchte Ratte hurtig zwischen den Beinen im Gang stehender Schüler den Gang heruntergerannt kam, an seinem Hosenbein hinaufturnte und sich rasch in seiner Jackentasche in Sicherheit brachte.

      Hinter ihr kämpfte sich ein überaus aufgebrachtes Mädchen in Heinrichs und Rums Alter unter rüdem Ellbogeneinsatz den Weg zu ihnen frei und knöpfte sich Rum vor.

      »Weißt du dämliches Arschloch, dass deine Scheiß Ratte mir gerade mitten auf den Schuh gekotzt hat?!«, schrie sie ihn wenig damenhaft an, und ihr zornesrotes Gesicht näherte sich dem seinen auf wenige Zentimeter. »Ich sollte ihr ihren verdammten Kopf abbeißen und dir die Eingeweide persönlich zu fressen geben«, tobte das Mädchen. »Und den vollgekotzten Schuh direkt hinterher.«

      Rum war das Grinsen gründlich vergangen. Er machte ein Gesicht, als sei die Götterdämmerung über ihn hereingebrochen, und hatte den Kopf so weit zwischen die Schultern zurückgezogen, dass er aussah wie eine Schildkröte. Heinrich vergaß vor Schreck das Luftholen, und die drei Jungs auf der anderen Sitzbank hatten sich weit genug in die Ecke gedrängt, dass sogar noch ein vierter neben ihnen Platz gehabt hätte. Im ganzen Wagen war es mucksmäuschenstill geworden. Alle starrten teils eingeschüchtert, teils neugierig auf die Szene mit dem brodelnden braunhaarigen Vulkan, der Rum mit blitzenden Lavaaugen anfunkelte.

      Sie rückte Rum immer dichter auf die Pelle, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten, und senkte gefährlich die Stimme. »Ich rate dir gut, künftig einen großen Bogen um mich zu machen oder deinen Haustieren schleunigst bessere Manieren beizubringen, sonst tue ich es.« Heinrich konnte nicht anders, als Kotze allein für die bloße Ankündigung zu bedauern. Dann drehte sie auf dem Absatz um und warf mit einer energischen Kopfbewegung ihr zu einem widerspenstigen Pferdeschwanz gebundenes Haar in den Nacken. Kurz streifte ihr Blick Heinrichs Stirn und er wischte sich hastig die Haare über die Beule, bevor sie womöglich Anstoß daran nehmen konnte. Doch sie kümmerte sich nicht weiter um ihn, riss die Übergangstür zum nächsten Wagen auf und rammte sie hinter sich unsanft wieder zu. Eine nur lose eingefasste Glasscheibe sprang aus dem Rahmen und zerschellte auf dem Gang.

      »Verdammt, das passiert mir andauernd«, schimpfte das Mädchen durch das entstandene Loch. Dann murmelte sie »Intacto Abteiltür« und verschwand. Die zersprungene Scheibe hüpfte Stück für Stück zurück an ihren Platz und begann, sich wieder zusammenzusetzen.

      »Meine Fresse, was war das denn?« keuchte Heinrich mit von dem lautstarken Auftritt fortwährend klingelnden Ohren, während im Wagen allmählich wieder Gespräche einsetzten und der normale Geräuschpegel zurückkehrte. Ob das die Sorte war, die Hagweed gemeint hatte, als er sagte, es gäbe jede Menge toller Mädchen in Hochwärts?

      »Do... Donnerwetter. T... tolles Weib«, stammelte Rum und starrte auf die zugeschmetterte Tür, die noch immer leise in der Führungsschiene zitterte. »'ne starke Stimme und zumindest lässt sie einen nicht unnötig lange darüber im Unklaren, was sie von einem hält.«

      »Wie es aussieht, lernt man den Zauberspruch zur Behebung vandalistischer Ausfälle ebenfalls ziemlich früh«, sagte Heinrich mit Blick auf die Türscheibe, wo gerade der letzte Splitter an seinen Platz sprang und sie zu einem unversehrten Ganzen vervollständigte.

      Schon kündigte die Lautsprecherstimme »Nächster Halt: ›Magische Akademien – Hochwärts‹« an. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, rollte aus der dunklen Tunnelröhre, hinaus in eine hell erleuchtete U-Bahn-Station, und kam schließlich mit einem sanften Ruck zum Stehen.

      22

      So oder so ähnlich musste sich Neil Armstrong gefühlt haben, als er den Mond betrat, dachte sich Heinrich und setzte seinen Fuß auf die granitenen Steinzeugfliesen der U-Bahn-Station von Hochwärts. Wobei Neil Armstrong im Gegensatz zu ihm damals wenigstens gewusst hatte, dass er mit der Mondfähre, aus der er gerade gesprungen war, wieder dahin zurückkehren konnte, woher er gekommen war.

      Heinrichs ›Mondoberfläche‹ offenbarte sich als ziemlich überbevölkert, denn, als habe jemand Löcher in eine riesige Senftube gestochen und drücke jetzt den Inhalt hinaus, quoll ein nicht enden wollender Strom Hunderter lärmender gepäckbeladener Schüler aus allen Öffnungen des U-Bahn-Zuges. Die Station war ziemlich weitläufig; ein Kiosk verkaufte Fahrkarten, belegte Brötchen und Zeitschriften und wurde umgehend von etlichen Schülern umlagert; mehrere Aufgänge verschwanden in Richtung Oberwelt. ›Forum der Nupsitechnologieanwender – Technikmuseum‹ stand an einem, ›Stadion‹ an einem anderen, ›Magische Akademien‹ an einem dritten.

      Eine hoffnungslos unterlegene Schar von Ordnern versuchte, die Schüler in geordnete Bahnen zu lenken und möglichst zusammenzuhalten, ein paar andere sammelten an zentraler Stelle das Gepäck, bedrängt von zahllosen ächzenden Schülern, von denen jeder versuchte, sein Zeug als Erster loszuwerden. Direkt neben Heinrich und Rum ging ein Junge unter der Last seines Gepäcks zu Boden. Es war der Junge mit dem grauen Haustier, der sie vorhin in der Stadt durch seine spektakuläre Jagd vor der drohenden Festnahme durch Nervi bewahrt hatte. Er hatte das Tier offenbar wieder eingefangen und hielt es mühsam gebändigt. Rasch gingen ihm Heinrich und Rum zur Hand und befreiten ihn von seinem riesigen Koffer.

      »Danke«, schnaufte der Junge und hielt das zappelnde Tier hoch. Es sah aus wie ein Murmeltier. »Das ist Trapdoor«, sagte der Junge keuchend.

      »Aha«, sagte Rum tonlos.

      »Soso«, sagte Heinrich und streckte dem Jungen die Hand hin.

      »Das ist Trapdoor«, wiederholte der Junge und ergriff Heinrichs Hand.

      »Haben wir verstanden«, sagte Rum, griff mit zu und half dem Jungen auf die Beine. »Und du?«

      »Ich?« Der etwas tapsig wirkende Junge zwinkerte nervös. »Ich bin nicht Trapdoor.«

      »Sag bloß?«, grinste Heinrich. »Hast du wenigstens einen eigenen Namen?«

      »Ach so«, strahlte der Junge. »Ich bin Nörgel, Nörgel Mountbatten. Und das ist Trapdoor.« Wieder hielt er sein Murmeltier hoch, drehte sich um und ging davon.

      Sie sahen hinter ihm her und schüttelten die Köpfe.

      »Nicht wundern, Heinrich«, schmunzelte Rum. »Das ist erst der Anfang. Guck dir mal den da drüben an.« Er zeigte zu einem Fahrplanaushang hinüber, neben dem völlig bewegungslos ein Junge im Zwergenkostüm stand, mit angeklebtem weißen Bart und Gartenharke.

      »Ob der auch in unseren Jahrgang gehört? Scheint ja 'ne schwere Meise zu haben.«

      »Hallo, Heinrich«, hörte Heinrich plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich sagen. Es war Hagweed. Er trug eine knallorangefarbene Warnweste mit der Aufschrift ›Schülerlotse‹ und stapelte Koffer auf einen Gepäckwagen.

      »Hi, Hagweed«, grüßte ihn Heinrich freudig, erleichtert darüber, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

      »Peace, Bruder. Schön, dass du es dir anders überlegt hast«, grinste er. Er schüttelte ihnen kurz die Hände, wurde dann aber sofort wieder von gepäckbeladenen Schülern in Beschlag genommen, und verschwand hinter dem Gepäckwagen.

      »Kennst du den?«, fragte Rum verdutzt.

      »Jep, das ist Hagweed. War gestern mit ihm shoppen in der Winkel-Mall«, gab Heinrich beiläufig zurück und kam sich komisch dabei vor.

      »He, zieht mal Leine. Hier wollen noch andere Leute ihr Zeug loswerden«, schnauzte eine Mädchenstimme. Es war das Ratten hassende Mädchen von vorhin.

      »Ja, ist ja schon gut«, beschwichtigte Rum und trat zur Seite. Wie zufällig ließ er Kotze aus der Jacke schauen, doch das Mädchen bemerkte die Provokation nicht und behandelte die Jungs wie Luft. Mit weit ausholendem Schwung wuchtete sie ihr Gepäck auf einen Wagen und hätte Rum dabei fast von den Beinen geholt. Ohne sich