Detlef Köhne

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel


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alle sehr aufgedreht, nestelten fortwährend an ihren Haaren und redeten mit glühenden Wangen durcheinander.

      Nach der Gepäckabfertigung schleusten die Ordner und Schülerlotsen die Kinder zu einem der Ausgänge. Es ging jedoch nicht in die Oberwelt, sondern zu einer langen Reihe von Abfertigungsschaltern, vor denen im Zickzack Drängelgitter aufgebaut waren, wie daheim in den Freizeitparks. Tatsächlich fehlte am Beginn des Parcours auch das entsprechende Schild nicht: ›Wartezeit ab hier: 45 min.‹. Die älteren Schüler hatten sich in Kenntnis des weiteren Prozederes schon frühzeitig in der Nähe der Abfertigungsschalter postiert, um es rasch hinter sich zu bringen. Heinrich und Rum standen mit den anderen ahnungslosen Erstsemestern ganz hinten. Da sie auch noch die Kleinsten waren, konnten sie durch die Kolonnen der Wartenden kaum etwas sehen und nur ab und zu einmal einen Blick auf die Schalter und darauf, was sich dort abspielte, erhaschen. Offenbar wurden Formulare ausgefüllt und Befragungen durchgeführt. Als sie näher kamen, konnten sie außerdem sehen, dass in einem großen Raum hinter den Plätzen der Schalterbeamten anscheinend das Gepäck gefilzt wurde.

      Dann fiel Heinrich zum ersten Mal diese Frau auf. Sie war eine ältere Dame, ziemlich groß, schmal, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, einem Hexenhut und einem dunklen Umhang. Augenscheinlich beaufsichtigte sie die Gepäckkontrolle, ließ aber auch immer wieder aufmerksame Blicke über die Kolonnen der Wartenden schweifen. Wie ein Habicht auf der Suche nach Beute, dachte Heinrich. Einmal hatte er das deutliche Gefühl, dass ihr Blick auf ihm den Bruchteil einer Sekunde länger haften blieb, als auf allen anderen und sie ihn, und seine Stirn, mit Blicken förmlich durchleuchtete. Wieder wischte er sich nervös die Haare über die Beule.

      Jetzt waren nur noch drei oder vier andere Schüler vor ihm und er hatte einen besseren Blick auf die Gepäckkontrolleure. Ihm stockte der Atem, als er erkannte, dass soeben sein Rucksack vom Stapel gezogen und geöffnet wurde. Irgendwie war ihm völlig klar, was als Nächstes passieren musste und tatsächlich: Der Typ stieß nach kurzem Stöbern auf das Notebook und zog es heraus. Unsicher drehte er es in den Händen, als wisse er nicht, was er vor sich habe, rief dann nach der Hexe im dunklen Umhang und zeigte ihr das Gerät. Oh, bitte, bitte, nehmt mir nicht mein Notebook, flehte Heinrich innerlich und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

      Die Frau drehte sich um – und diesmal war sich Heinrich sicher, dass ihr Blick ihn direkt suchte, obwohl sie unmöglich wissen konnte, dass dies sein Gepäck war. Sie fand ihn, fixierte ihn einen Moment lang, dann nickte sie unmerklich. Sie wandte sich wieder dem Kontrolleur zu und sagte irgendetwas zu ihm, worauf er verständnislos mit den Schultern zuckte. Ungeduldig wedelte sie mit der Hand und achtete darauf, dass er Heinrichs Klapprechner sorgsam wieder verstaute. Erst nachdem er den Rucksack wieder verschlossen, ihn auf einen Gepäckwagen für erledigte Fälle gestapelt, und sich den nächsten Koffer vorgenommen hatte, ließ sie von ihm ab.

      Heinrich atmete dankbar auf. Warum nur hatte die Frau dafür gesorgt, dass die Kontrolle seines Rucksacks so umgehend beendet wurde, oder bildete er sich das nur ein? Mittlerweile hatte er das Gefühl, dass sie ihn kaum noch aus den Augen ließ.

      »He, deinen Namen bitte!«

      »Hm?« Bei all der Aufregung um seinen Rucksack hatte Heinrich gar nicht bemerkt, dass er mittlerweile der Erste in der Reihe war. Erst Rums Knuff in den Rücken ließ ihn wieder aufwachen.

      »Du bist dran, Kleiner. Deinen Namen bitte.« Der Schalterbeamte war kurz davor, die Geduld zu verlieren.

      »Verzeihung, ich habe gerade nicht aufgepasst«, entschuldigte sich Heinrich und bemerkte, dass er rot wurde.

      »Sag bloß. Deinen Namen, bitte! Und ich frage nicht noch einmal.«

      »Heinrich Töpfer«, sagte Heinrich und sah aus dem Augenwinkel, dass die Frau mit verschränkten Armen im Schatten eines Kofferturmes stand und ihn und den Schalterbeamten aufmerksam beobachtete, während der seinen Zeigefinger die Namensliste vor sich hinabwandern ließ. »Steht nicht auf der Liste«, knurrte der Mann schließlich, und Heinrichs Herz machte einen Hüpfer. Na bitte, sein Name war nicht vermerkt. Wie auch, hatten sie doch schließlich den Falschen geschnappt. Endlich würden die Verantwortlichen ihren Irrtum einsehen und ihn wieder nach Hause verfrachten.

      »Wir haben hier einen über«, rief der Beamte nach hinten. Doch dann trat die Frau aus dem Schatten, drehte die Namensliste zu sich hin und legte ihren schmalen Zeigefinger auf einen Namen. Der Beamte schaute erst auf die Liste, dann mit erhobenen Augenbrauen in das Gesicht der resoluten Hexe. Dann nickte er ergeben, spannte einen sauberen Fragebogen auf sein Klemmbrett und übertrug ein paar Daten aus der Namensliste. »Okay, Mr. Pot...«

      »Töpfer.«

      »Wenn Ihnen das lieber ist ... Vor Beginn der Befragung weise ich Sie zunächst darauf hin, dass wissentliche Falschaussagen bei den Strafverfolgungsbehörden und der Einschulungsbehörde zur Anzeige gebracht werden. Also, fangen wir an. – Sind Sie vorbestraft?«

      »Wie bitte?«

      »Ich sagte: Sind Sie vorbestraft?«

      »Aber, wie kommen Sie ...«

      »Beantworten Sie nur die Fragen. Sind Sie vorbestraft?«

      »Nein, natürlich nicht«, antwortete Heinrich wütend. Was sollte das alles?

      »Hat jemand finanzielle Ansprüche gegen Sie?«

      »Nein, nicht, dass ich wüsste. Ich möchte ...«

      »Antworten Sie bitte nur mit Ja oder Nein, Herr Töpfer. Wurden Sie je von einer Schule verwiesen?«

      »Nein!« Heinrich wurde über diese Art der Befragung ernsthaft sauer und vergaß dabei sogar, dass er eigentlich mit jemandem über seine Heimfahrt verhandeln wollte.

      »Planen Sie einen Anschlag gegen eines der Institute oder einen seiner Repräsentanten?«

      »Großer Gott, nein«, antwortete Heinrich reflexartig.

      »Haben Sie verbotene Gegenstände bei sich? Hieb- oder Stichwerkzeuge, Sprengkörper? Alkohol, Klebstoff, sonstige Rauschmittel?«

      Heinrich schüttelte nur noch perplex den Kopf und wurde mit jeder Frage fassungsloser.

      »Haben Sie vor, eine anarchistische Schülerzeitung zu gründen? – Führen Sie linkes Propagandamaterial mit sich? Mad-Hefte? Hetzschriften gegen die Akademieverwaltung oder die Abteilung für Schulsicherheit? – Unterhalten Sie Kontakte zu Studentenwerken, der Heilsarmee oder anderen radikalen Organisationen? – Nein? - Okay, dann war 's das, Herr Töpfer. Hier unterschreiben. – Welches Institut? Hochwärts? Erstsemester zur Findungskommission, linker Aufgang. Hier ist dein Laufzettel. Der Nächste bitte!«

      Heinrich griff wie mechanisch nach dem Laufzettel und stolperte benommen aus der Reihe. Ein Ordner nahm ihn direkt in Empfang und geleitete ihn zu einem Aufgang. Sie durchquerten einen langen betonierten Gang mit Parkhauscharme. Dann ging es ein paar Treppen hinauf und durch eine Glastür in einen hellen Flur mit vielen roten Bürotüren. An einer Tür stand ›Findungskommission‹. Der Ordner klopfte kurz an, jemand rief »Herein«. Der Mann öffnete die Tür und schob Heinrich energisch hindurch. Geräuschvoll fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

      23

      In der Mitte des Raumes stand ein eleganter runder Holztisch und darum herum ein Stuhlkreis aus einem guten Dutzend hoher Polsterstühle. Lautes Stimmengewirr schlug Heinrich entgegen. Doch der einzige Mensch im Raum, außer ihm selbst, war lediglich ein weiterer Erstsemester, ein Mädchen, das soeben von einem der Stühle aufstand und mit glasigem Blick und einem eingerollten Einschulungszertifikat in der Faust aus der gegenüberliegenden Tür taumelte. Auf den restlichen Stühlen saßen und redeten – Hüte!

      Heinrich blieb wie vom Blitz getroffen stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Bei allem, was er bis hierher erlebt hatte, war sein Auffassungsvermögen bereits ganz gut auf die Probe gestellt worden, aber sprechende Hüte? Das war entschieden zu viel.

      Das Gespräch der Mützen und Hüte verstummte.

      »Noch einer«, stöhnte