Nathalie O'Hara

Das Vermächtnis der Kristallkönigin


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beiden trauten ihren Augen nicht. Der Raum, in dem vorher nur zwei Wolkenbetten standen, sah jetzt völlig anders aus. Die Wolkenbetten und der Wolkenboden waren verschwunden. Der ganze Raum existierte nicht mehr, denn die Tür führte jetzt direkt ins Freie. Die Mädchen gingen durch die Tür und fanden sich in einem großen Garten wieder. Dieser Garten war so riesig, dass es den Anschein hatte, er wäre unendlich. Exotische bunte Blüten wuchsen in den azurblauen Himmel empor und verströmten einen wunderbaren Duft. Warme Sonnenstrahlen drangen durch die unzähligen Palmen, die einen herrlichen Wasserfall umrahmten.

      Ein Wasserfall, das war es scheinbar was Cerridwen unter einem Bad verstand. Die Mädchen gingen langsam den schmalen Pfad zum Wasserfall entlang und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die unterschiedlichsten Pflanzen wuchsen am Wegesrand und bildeten ein grünes Dickicht, welches den Mädchen über ihre Kutten peitschte. Kleine Risse bildeten sich in dem schwarzen Stoff. Die beiden ignorierten die Risse und so wurden aus den kleinen Rissen, große Löcher die sich durch alle Teile der Kutten zogen. Die Löcher wurden immer größer und langsam löste sich der ganze Stoff, bis er schlussendlich wie Staub von den Körpern der Mädchen fiel. Ihre Schritte wurden immer schneller und schneller und je mehr die alten, schweren Kutten von ihren Körpern fielen, desto unbeschwerter und glücklicher wurden sie. Sie fühlten sich leicht und die alten schweren Lasten fielen als Ballast von ihren Seelen ab. Sie begannen zu laufen und ihre Jahre im Kloster schienen nur noch ein Schleier ihrer Vergangenheit zu sein. Sie begannen fröhlich zu lachen und genossen den Wind, der durch ihre Haare streifte. Nur noch wenige schwarze Fetzen der Kutten waren vorhanden und je näher der Wasserfall kam, desto schneller lösten sie sich auf, bis sie schließlich völlig verschwunden waren. Der sanfte Wind streifte ihre nackten Körper und das Dickicht wirkte nun nicht mehr peitschend sondern streichelte ihre nackten Beine und Füße.

      Als sie am Wasserfall ankamen setzten sie sich ein paar Minuten auf einen grauen, von der Sonne gewärmten Stein. Dieser Ort war atemberaubend schön. Der Wasserfall schien vom Himmel herab in einen rundlichen, von unzähligen Blumen umrandeten Teich zu fallen. Das Wasser war so herrlich klar, dass sie den Grund des Teiches sehen konnten. Golden schimmernde Fische tummelten sich im Teich und schwammen durch zartrosa schillernde Wasserpflanzen. Das Sonnenlicht brach sich im Wasser und ein spektrales Funkeln durchzog wie kleine Kristalle alle Blumen, die üppig den Teich umrahmten.

      Die Mädchen stiegen langsam in das kühle Nass des Teiches und das klare, frische Wasser perlte angenehm auf ihrer Haut. Sie schwammen zum Wasserfall und ließen sich von seiner Strömung umhüllen.

      Einige wohlduftende Seerosen wurden von sanften Wellen zu ihnen gespült und als sie bemerkten, wie gut ihr Nektar duftete, beschlossen sie, mit diesem Nektar ihre Körper und ihre Haare zu waschen. Einige Stunden vergingen, in denen sie unbeschwert im Wasser tobten, sich gegenseitig vollspritzten, lachten und einfach Kinder sein konnten. Sie erlebten jene schönen und unbeschwerten Stunden der Kindheit, die ihnen all die Jahre im Klosteralltag verwehrt geblieben war.

      Nach einiger Zeit versiegte der Wasserfall und eine kristalline Höhle kam dahinter zum Vorschein.

      Neugierig betraten sie die Höhle, deren Wände aus reinem blauem Aquamarin bestanden. In der Mitte der Höhle lagen auf einem kristallinen Tisch zwei prächtige Gewänder in ihrer Größe. Die weißen Kleider hatten glockenförmige Ärmel und waren bodenlang. Vorne über der Brust verlief in Zickzackform eine goldene Kordel, die man am Rücken enger ziehen konnte. Neben den Kleidern lagen zwei wunderschöne, weiße Blumenkränze, 2 Paar weiße Schuhe und zwei kristalline Amulette.

      Die Mädchen hüllten sich in diese prachtvollen Kleider, zogen sich die zarten Schuhe an, setzten die Blumenkränze auf ihre zierlichen Köpfe und legten sich die Amulette an.

      Dann kehrten sie ins Haus von Cerridwen zurück, die schon im Korridor erwartete.

      Die alte Dame schloss die Tür zum Garten und sagte: „Ihr seid jetzt gewiss sehr müde, ihr solltet zu Bett gehen.“ Als sie die Tür wieder öffnete war der Garten verschwunden und der Raum mit den zwei Wolkenbetten war wieder da. Müde und zufrieden gingen die Mädchen zu Bett und schliefen tief und fest, ohne auch nur einen kleinen Traum zu träumen.

      14. Am nächsten Tag wurden sie von einem Sonnenstrahl geweckt, der von einem Spiegel in zwei Strahlen gebrochen wurde um beiden Mädchen gleichermaßen ins Gesicht zu scheinen. Der Strahl drang durch ein kleines Loch in der Wolkendecke und kitzelte ihre Nasen.

      Sarah war die Erste, die aus dem Bett stieg und den großen, kristallinen Spiegel bewunderte, der sich am Vorabend noch nicht in ihrem Zimmer befand. Als sie ihr Spiegelbild sah, wich sie erschrocken zurück. Ihre vorher schulterlangen, blonden Locken schienen über Nacht gewachsen zu sein und sie wirkte etwas größer als am Vortag. „Maya, steh auf! Irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen!“, rief sie erschrocken. Maya kletterte müde aus dem Bett und wich vor ihrer Freundin zurück.

      „Oh mein Gott! Was ist mit dir geschehen?!“, stieß sie verwundert hervor. Aber als sie selbst vor den Spiegel trat, erkannte sie, dass auch sie sich verändert hatte. Sie war größer geworden und ihre Brüste fingen an zu wachsen. Wo am Tag zuvor nur Brustwarzen zu sehen waren, befanden sich jetzt zwei kleine Hügel und auch ihre Haare waren länger geworden.

      Sie stand vor dem Spiegel und strich sich über die Wölbungen ihrer neuen Brust. Schnell schlüpften sie in ihre Kleider und gingen zu Cerridwen in die Küche.

      „Cerridwen, was geschieht mit uns?“, fragte Sarah.

      Cerridwen lächelte und sagte ruhig: „Keinen Grund zur Sorge, wie ich bereits erwähnte, vergeht die Zeit in der Zwischenwelt schneller als in eurer Welt. Ihr werdet mit jedem Tag älter aber hier macht sich das deutlicher bemerkbar“. Die Mädchen setzten sich an den Tisch und aßen nachdenklich und schweigend ihr Frühstück.

      Nach dem Essen hatte Cerridwen für jede von ihnen eine Aufgabe vorbereitet.

      Da jedes Mädchen eine andere Aufgabe zu erfüllen hatte, wurden sie von Cerridwen einzeln unterrichtet. Sarah kam als Erste dran und wurde von der Hüterin zu der großen Kristallkugel im Korridor geführt.

      Die alte Frau ließ ihre Hand über die Kugel gleiten und plötzlich erschienen Landschaften darin. Als Sarah genauer in die Kugel sah, erkannte sie den Klostergarten, in dem ihre ehemaligen Klosterschwestern bei großer Hitze Beeren von den Sträuchern pflücken mussten. Daneben stand die Mutter Oberin mit einer Haselnussrute und peitschte auf den Boden um die Kinder noch mehr bei der Arbeit anzutreiben. Die Klosterschülerinnen schwitzten und bettelten nach Wasser aber die Mutter Oberin hatte kein Erbarmen und schlug mit der Haselnussrute fest auf die bettelnden Hände. Sarah war entsetzt und ihre Vergangenheit, die sich durch die schöne Zeit hier wie eine schlechte Erinnerung anfühlte, holte sie plötzlich wieder ein.

      Cerridwen nahm Sarah tröstend in ihre Arme und sprach: „Deine Aufgabe ist es, durch diese Kugel den Menschen Gutes zu tun. Das Gute macht sich auch durch Kleinigkeiten bemerkbar. Aber damit du auch die Umstände erkennst, wo du es einsetzen musst, fangen wir heute mit einer Situation an, die dir sehr gut bekannt ist.“

      „Wie kann ich helfen?“, fragte Sarah hilflos.

      „Du musst einfach nur auf dein Herz hören und den Menschen mit kleinen Hilfestellungen die Situationen erleichtern“, sprach Cerridwen. Sarah legte ihre Hände auf die Kristallkugel und konzentrierte sich auf die Liebe in ihrem Herzen. Plötzlich begann es im Klostergarten zu regnen, weshalb die Mutter Oberin ins Kloster stürmte und die Tür hinter sich zuschloss.

      Die Schülerinnen, die im Garten Beeren pflücken mussten,

      wurden durch das Nass erfrischt und konnten daher viel schneller ihre Körbe füllen. Der Regen wurde stärker und füllte einen leeren Eimer, der ebenfalls mit Beeren bestückt werden sollte. Die Mädchen nahmen ihn und reichten ihn herum, bis jede von ihnen ihren Durst gestillt hatte.

      „Du hast das wunderbar gemacht! Das war erst der Anfang. Wenn du geübt bist, wirst du immer das Richtige tun, sofern du immer auf dein Herz hörst“, lobte Cerridwen.

      Das kleine Glück der Klosterschülerinnen erfüllte Sarah mit Freude und so entstanden immer mehr