Nathalie O'Hara

Das Vermächtnis der Kristallkönigin


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und Papa würden schon wissen, was zu tun sei. Panisch lief das damals 10jährige Mädchen durch die mit Leichen übersäten Straßen, zwängte sich durch die kreischende Menschenmenge und fand sich vor dem Stand wieder, an dem sie ihre Mutter zuletzt gesehen hatte. Aber sie konnte sie einfach nicht finden. Völlig verängstigt suchte sie um den Stand herum, hob die Tücher hoch, die ihn bedeckten. Sarahs Mutter lag zwischen Müll und Unrat, der offensichtlich vom Verkäufer einfach nur achtlos unter den Stand geworfen wurde.

      Ruhig, mit leicht geöffneten Lippen lag sie am Boden. Ihre Augen starrten leblos ins Leere und ihr ganzer Oberkörper war vom Halsansatz bis zur Taille zerfetzt. Sarah brach neben ihr zusammen, weinte gegen ihre Schulter, flüsterte ihr liebevolle Worte ins Ohr, strich ihr über die blutgetränkten Haare und bettelte sie an, wieder aufzuwachen. Doch sie bewegte sich nicht und je mehr dem Mädchen bewusst wurde, dass sie sich nie wieder bewegen wird, desto mehr fing es an zu weinen. Voller Schmerz saß sie neben ihrer toten Mutter, legte sich ihren Kopf auf den Schoß und schloss ihr mit den Händen sanft die Augen um sie danach immer wieder über die Wangen zu streicheln.

      „Alles wird gut Mama, du wirst wieder gesund“, flüsterte sie leise und dicke Tränen kullerten über ihre Wangen.

      Unvermutet legten sich zwei Arme von hinten um ihre Schultern und sie fühlte sich von einer Person gedrückt. Sarah erschrak und fuhr herum. Aber es war nur Maya, die mit schmutzigem Gesicht, weinend ihre blutverschmierten Arme um sie legte.

      „Vater? Wo ist mein Vater? Ich muss meinen Vater finden“, flüsterte Sarah.

      „Komm mit, ich führe dich zu ihm“, antwortete Maya leise.

      Taub vor lauter Schmerz ließ sich Sarah von ihr zurück zu dem Platz führen, an dem sie vorher ihre toten Eltern liegen sah. Maya deutete abermals auf die zwei blutenden Bündel, die dort am Boden lagen. Sarah war etwas verwundert und verstand nicht, warum Maya wollte, dass sie sich diesen furchtbaren Anblick noch einmal antun sollte, aber sie tat es einfach und kniete sich neben die Leichen. Mayas Vater lag mit dem Gesicht nach oben, zumindest mit dem was von seinem Gesicht noch übrig war. Die Bombe hatte seinen halben Kopf zerfetzt, lediglich ein Auge und der halbe Mund waren noch vorhanden. Sarah drehte ihren Kopf zur Seite, sie konnte sich das nicht mehr ansehen. Als sie sich wegdrehen wollte, blieb ihr Blick am zweiten Bündel hängen und sie hatte das Gefühl, ihr Gesicht würde gleich einfrieren. Hier lag nicht Mayas Mutter, hier lag ihr eigener Vater. Vermutlich hatte sie das deshalb nicht beim 1. Mal gesehen, weil sie es nicht erkennen wollte.

      „SIE SIND TOT!! SIE SIND ALLE BEIDE TOT!““, Sarah brach zusammen und schlug mit den Fäusten gegen den Boden, bis ihre Hände ganz blutig waren. Maya konnte nichts tun, außer sie zu umarmen und ihr in ihrer kindlichen Art beizustehen. Sie fühlte sich hilflos aber sie wollte trotzdem versuchen, ihrer Freundin so gut es ging Trost zu spenden. Sie saßen eine Weile kauernd neben den Leichen, hielten einander fest um sich gegenseitig zu trösten und nahmen das Getümmel um sich herum nicht mehr wahr. Erst als ägyptische Einsatzkräfte die Leichen ihrer Väter abtransportierten, lösten sie ihre Umarmung. Ein Sanitäter nahm sich der Mädchen an und brachte sie zu einem Krankenhaus, wo sie untersucht wurden und ein paar Tage zur Beobachtung bleiben mussten. Sie standen unter einem schweren Schock, von dem sie sich nur langsam erholen sollten. Wenige Tage später kam eine, mit Kopftuch bekleidete Frau zu ihren Krankenpritschen. Da sie kein Wort Englisch sprach, versuchte sie mit Gesten und ägyptischen, kurzen Sätzen ihr Anliegen den Mädchen verständlich zu machen. Sie zogen sich ihre schmutzigen Kleider an, die neben den Pritschen lagen und folgten ihr aus dem Krankenhaus hinaus, die Straße hinunter bis zu einem großen Gebäude mit einer britischen Fahne darauf.

      Die Mädchen wurden bereits von einer modern gekleideten Dame erwartet, die auch in ihrer Sprache sprechen konnte. Dort wurde ihnen erklärt, dass sie sich in der britischen Botschaft von Kairo befanden, ihre Eltern bei dem Bombenanschlag auf dem Basar höchstwahrscheinlich ums Leben gekommen seien und dass sie sie zur Abklärung in einer Halle identifizieren mussten.

      Die Mädchen nickten stumm, stiegen zu der Dame, die sich Mrs. Atkins nannte, ins Auto und fuhren durch die Straßen Kairos bis zu einem großen Gebäude, das etwas abseits der Stadt stand. Dort angekommen, wurden sie in eine schäbige Lagerhalle geführt. Der ekelhaft süße Geruch der Verwesung drang in ihre Nasen und sie mussten sich beherrschen, um sich nicht gleich übergeben zu müssen. Überall waren Planen, auf denen tote Menschen lagen. Der Verwesungsprozess hatte aufgrund der enormen Hitze bereits eingesetzt und der bestialische Gestank in der stickigen, schwülen Halle, war kaum auszuhalten.

      Auf manchen Körpern tummelten sich schon Fliegen, die ihre Larven in das verwesende Fleisch hinein legten.

      Mit gesenkten Köpfen ließen sie sich von Mrs. Atkins zu dem hinteren Teil des Raumes führen, wo ihre Eltern lagen. Sarah nickte stumm beim Anblick der zerfetzten Körper und brach abermals in Tränen aus. Sie nahm die Hand ihrer toten Mutter ein letztes Mal, um sie zu küssen und um sich zu verabschieden.

      Nachdem sie auch von ihrem Vater Abschied genommen hatte, drehte sie sich zu Mrs. Atkins und nickte stumm.

      Maya hingegen, war mit einem anderen Problem beschäftigt. Auch sie hatte sich von ihrem Vater bereits verabschiedet, aber die Frau die neben ihrem Vater lag, war nicht ihre Mutter. Sie drehte sich zu Mrs. Atkins um und sprach sie darauf an. Diese jedoch, zuckte nur mit den Schultern.

      „Vielleicht liegt deine Mutter einfach ganz woanders in diesem Raum“, sagte die Dame trocken und deutete auf die ganzen Leichenbahnen in der Halle. „Komm, ich helfe dir suchen“, sagte Sarah und fing damit an, sich die verzerrten, verletzten, verwesenden Körper anzusehen. Der Anblick dieser vielen toten Menschen war einfach grauenvoll. Teilweise lagen nur zerfetzte Körperteile auf den Planen. Gliedmaßen, wie Arme oder Beine, machten Sarah weniger etwas aus, selbst wenn sie ziemlich zerfleischt waren. Das was Sarah unvergesslich bleiben sollte waren die abgetrennte Köpfe, die sie mit toten Augen und offenen Mündern anstarrten. Wenn man sich diese Schädel so ansah, konnte man kaum glauben, dass es sich einmal um lebendige Menschen handelten. Vielmehr wirkten sie wie die Fratzen von bösen Monstern, die aus der Hölle entstiegen waren. Zumindest im Kopf eines achtjährigen Mädchens war dem so. Sarah wusste, dass sie jetzt für eine lange Zeit, nachts keinen Schlaf mehr finden würde.

      Auch Maya begann zu suchen und lief zwischen den Leichenbahnen umher. Sie suchte fieberhaft den Körper ihrer Mutter, aber sie konnte ihn einfach nicht finden. Auch nachdem sie die Halle mehrmals penibel abgegrast hatten, ihre Mutter befand sich nicht unter den Toten.

      Nach ein paar Stunden der Suche meinte Mrs. Atkins, dass es keinen Sinn mehr hätte weiterzusuchen und brachte die Mädchen in die Botschaft. Dort angekommen wurden sie gebadet und bekamen frische Kleidung, da ihre Kleider völlig verschmutzt und auch teilweise kaputt waren. Erschöpft fielen sie ins Bett.

      Am nächsten Tag telefonierten Mitarbeiter der Botschaft mit dem Hotel, das die Mädchen mit ihren Eltern bewohnt hatten, um die vollständige Identität und Herkunft mittels Buchungsnachweisen festzustellen. Außerdem wurde nachgefragt ob Mayas Mutter sich im Hotel aufhielt oder ob sie nach dem Anschlag im Hotel gewesen sei.

      Die Nachforschungen dauerten den ganzen Tag lang aber man konnte Mayas Mutter weder in der nochmals abgesuchten Halle, noch in den Krankenhäusern finden.

      Nach etwa zwei Wochen wurden die Suchaktionen seitens der ägyptischen Behörden eingestellt.

      Die Mädchen wurden trotz neuseeländischer Staatsbürgerschaft, dem Jugendamt in London übermittelt.

      Von dort betraute man die neuseeländischen Behörden mit der Aufgabe, nach weiteren Angehörigen der Mädchen zu suchen. Diese jedoch kamen zu keinem positiven Ergebnis. Sarahs Eltern waren Waisen und hatten keine Angehörigen, zumindest keine, die ihnen bekannt waren. Mayas Verwandte waren alle verstorben, bis auf einen einzigen Onkel, der als das schwarze Schaf der Familie galt und lebenslang hinter Gittern saß. Was er genau verbrochen hatte, wusste Maya nicht aber sie vermutete, dass es wohl Mord gewesen sein musste.

      Obwohl es keine Angehörigen mehr gab, war es im Gesetz so vorgesehen, dass die Mädchen in ihre Heimat Neuseeland zurückgebracht werden mussten. Dort würde man schon ein Waisenhaus für sie finden. Bis dahin wurden