Nadine T. Güntner

Allendas


Скачать книгу

Kreis aufgestellt; so war es die Sitte ihres Volkes und so bot es dem Lager den besten Schutz. In der Mitte saß der alte, grauhaarige Mann auf seinem Stuhl und beobachtete mit seinen scharfen, klaren Augen das Geschehen, das sich auf dem runden Platz, inmitten ihrer Behausungen, abspielte. Zu seinen Füßen brannte ein Feuer, das ihn wärmte, denn in dem schattigen Wald war es immer ein wenig kühl. Seine Hand stützte er auf einen dicken, knorpeligen Stock. Das Alter hatte ihn gezeichnet, hatte seinen Rücken gebeugt und ihm das Gehen schwer werden lassen, aber sein Verstand war noch immer klar und seine Sinne scharf.

      »Wen bringst du uns da, mein Sohn?«, fragte er mit fester Stimme, der das Alter noch nichts hatte anhaben können, als Merit vor ihn trat und sich tief verbeugte. Sollas betrachtete seinen jüngeren Sohn mit einem gutmütigen Blick, ließ seine Augen dann wieder zu dem bewusstlosen Menschen gleiten, den die beiden anderen Jäger auf den weichen, moosbedeckten Boden gebettet hatten, um vor ihrem Ältesten auf die Knie zu gehen.

      »Ich kenne ihn nicht, Vater«, antwortete Merit mit der ergebenen Stimme eines guten Sohnes, der nicht nur vor seinem Vater, sondern auch vor dem Oberhaupt seines Stammes stand. Er wusste, dass sein Vater es nicht schätzen würde, dass er einen Fremden in ihr Dorf hatte bringen lassen, aber der Stammesvater war ein gerechter und gutherziger Mensch. Er würde seine Gründe verstehen. »Wir stießen nahe dem Waldrand auf ihn. Er wurde in den Wald gehetzt und eine Meute scheußlich aussehender Kreaturen war hinter ihm her. Ich habe solche Wesen noch niemals zuvor gesehen, aber sie führten nichts Gutes im Schilde, das war ihnen anzusehen. Wir haben einen von ihnen getötet, als er sich auf den Menschen stürzen wollte und zwei weitere, die ihn verfolgten.«

      Sollas nickte. »Warum, meinst du, haben sie ihn verfolgt?«

      »Auch das weiß ich nicht, Vater«, antwortete Merit und senkte den Kopf. Ihm war klar, dass sein Vater befürchtete, er hätte ihm einen Verbrecher in ihr Lager gebracht. Der Stammesvater sorgte sich sehr um sein Volk. »Aber ich bin der Überzeugung, es ist nichts Böses in ihm.«

      Sollas fuhr sich durch den sauber geschnittenen, grauen Bart und brummte kurz, während er nachdachte. »Gut, ich vertraue der Intuition meines Sohnes. Wir werden sehen, ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Der Mensch ist nun hier und wir werden uns um ihn kümmern, bis er in der Lage ist, alleine seines Weges zu ziehen. Bringt ihn in ein Zelt und lasst nach der Heilerin rufen!« entschied er. Sein Sohn sah ihn mit dankbaren Augen an. Merit hatte das Schicksal des Mannes mit den verängstigten, blauen Augen sehr bewegt. Er war froh, ihm helfen zu können.

      Erneut wurde Herras in eines der aus gegerbtem Tierleder gefertigten Zelte gebracht. Sie betteten ihn auf eine niedrige Holzliege. Eine Wache wurde vor dem Zelt aufgestellt, denn Sollas wollte nicht zu viel riskieren.

      Merit ließ nach der Heilerin schicken, doch diese war nicht aufzufinden. Sie hatte sich in den Wald begeben, um Heilkräuter zu sammeln und wurde so bald nicht zurück erwartet. Dafür eilte ihre Tochter Maleris an das Lager des Bewusstlosen. Das Mädchen befand sich bei ihrer Mutter in der Lehre und verfügte trotz der zwanzig Sommer, die sie zählte, bereits über ein ansehnliches Wissen in der Kunde der Kräuter und Heiltränke.

      »Was ist mit ihm geschehen?«, fragte das Mädchen, als sie sich die Wunden des erschöpften Mannes ansah.

      »Man hat ihn gejagt«, erklärte Merit, der am Eingang des Zeltes stand und das Tun der jungen Heilerin beobachtete. Er kam nicht dazu, mehr zu sagen, denn Maleris ging davon, um aus den Vorräten ihrer Mutter die benötigten Heilkräuter herbeizuholen. Als sie zurückkehrte, fertigte sie daraus in einem hölzernen Mörser eine feste, streng riechende Paste an.

      Herras war noch immer ohnmächtig. Er bemerkte nicht, wie sie ihm die zerrissenen Kleider entfernten. Maleris ließ sich heißes Wasser bringen und wusch vorsichtig das schmutzige Gesicht und den Körper des unbekannten Mannes. Dann trug sie die grüne Paste auf die unzähligen kleinen Wunden auf. Sie würden die Verletzungen reinigen und dabei helfen, schneller zu heilen.

      »Mehr kann ich für ihn nicht tun«, sagte Maleris, als sie damit fertig war. »Ich denke, er wird sehr erschöpft sein, wenn er wieder zu sich kommt. Mutter soll sich aber seine Wunden noch einmal ansehen, wenn sie zurückkommt.«

      Als Maleris’ Mutter in das Lager zurückkehrte, war sie mit der Arbeit ihrer Tochter zufrieden. Auch sie konnte nicht mehr für Herras tun.

      Am frühen Abend, als auch das letzte Sonnenlicht aus dem Wald gewichen war und das Lager von vielen Feuern erhellt wurde, erwachte Herras. Merit, der die ganze Zeit nicht von seiner Seite gewichen war, betrachtete den Fremden mit erleichterten aber auch neugierigen Augen, als Herras die seinen flatternd öffnete und sich verwirrt umsah. Eine kleine Fackel erhellte das Zelt und Herras konnte nur dunkle Schatten und wage Umrisse erkennen. Dann sah er Merit an. Herras’ Blick war noch trübe und ein wenig verschwommen. Trotzdem konnte er die offenen und ehrlichen grünen Augen in dem von roten Locken umrahmten Gesicht des Waldmenschen erkennen und ihr Ausdruck nahm ihm die Angst, die angesichts der fremden und unbekannten Umgebung in ihm aufgestiegen war. Sein Herzschlag beruhigte sich etwas. Vorsichtig versuchte er, den Kopf zu heben, ließ ihn aber sogleich wieder zurück auf das flache Kissen sinken. Er fühlte sich unsagbar schwer an.

      »Wo bin ich?«, fragte er den Mann, der ihn so neugierig musterte, und er bemerkte, wie trocken sein Mund war. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und machte ihm das Sprechen schwer.

      »Ihr seid in unserem Lager. Das Lager des Stammes Arond. Ich bin Merit. Sollas, mein Vater, ist das Oberhaupt unseres Stammes und er hat Euch Unterkunft bei uns gewährt, bis Ihr wieder gesund seid.«

      Herras empfand die Situation unwirklich. Das Letzte, was er wusste, war, dass er um sein Leben gelaufen war, mit der verzweifelten Gewissheit, diesen Kampf nicht gewinnen zu können, und nun lag er gut behütet in einem, wie er zugeben musste, gemütlichen Zelt und sprach mit einem Mann, der ihm ganz offensichtlich wohl gesonnen war. »Wie bin ich hierher gekommen?«

      »Wir haben Euch schon eine ganze Weile beobachtet und bemerkt, in welcher verzweifelten Lage Ihr wart. Als ihr zusammengebrochen seid, haben wir uns Eurer angenommen und Euch hierher gebracht«, antwortete Merit.

      »Dann bin ich ihnen also entkommen«, flüsterte Herras leise.

      »Ja«, antwortete Merit mit einem dünnen Lächeln, »auch wenn ich zugeben muss, dass es Euch ohne unsere Hilfe wohl nicht gelungen wäre. Es hat nicht viel gefehlt, und sie hätten Euch überwältigt. Aber seid unbesorgt, wir haben die fremden Kreaturen getötet.«

      »Dann wart Ihr es, der den Pfeil geschossen hat«, stellte Herras dankbar fest. Er erinnerte sich an den Moment, in dem ihn der Sellag bereits in seinen Krallen hatte.

      Merit nickte bestätigend. »Es gibt Leute, die behaupten, ich sei der beste Armbrustschütze unseres Stammes.« Merit sagte diese Worte nicht ohne Stolz.

      »Dem kann ich mich nur anschließen. Ich danke Euch, Merit.« Herras war nun klar, was er diesem Fremden zu verdanken hatte.

      »Jetzt lasst mich Euch aber eine Frage stellen.« Merit wollte nun endlich auch seinen Wissensdurst gestillt sehen. »Wer seid Ihr und wer waren diese Kreaturen, die Euch verfolgten?«

      Der Mensch aus Allendas seufzte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie unhöflich er war. Er hatte sich seinem Retter noch nicht einmal vorgestellt. Aber die Erschöpfung vernebelte ihm noch immer die Sinne. »Ich bin Herras. Bis gestern war ich Hauptmann der Wachen Hondors, König von Allendas, aber jetzt bin ich nur noch ein einsamer Verfolgter auf der Flucht.« Herras machte eine kurze Pause. Das Reden fiel ihm schwer. »Wer meine Verfolger waren, kann ich Euch auch nicht sagen. Sie fielen gestern Nacht über unser Land her und unterwarfen es gnadenlos.«

      »Woher kamen sie?« Merit war beunruhigt über das, was er hörte.

      Herras schloss kurz die Augen. »Sie sagten, sie kämen aus dem Gerland-Gebirge, westlich von Allendas, aber wie sie so plötzlich in unser Land eindringen konnten, weiß ich nicht.« Merit konnte sehen, dass Herras das Sprechen anstrengte.

      In diesem Augenblick betrat Maleris das Zelt. Die Wache hatte sie herbeirufen lassen und nun brachte sie einen großen Becher mit kaltem Tee, den sie für Herras zubereitet hatte.