Nadine T. Güntner

Allendas


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scheiterte. Er konnte nicht verhindern, dass sein zorniger Blick immer wieder zu dem Sellag schweifte, der regungslos und mit geschlossenen Augen in der Ecke des Turmes lag.

      Hondor VI / Kalerid III

      Als der Morgen über den Paratul hereinbrach, waberte Nebel um den geschundenen Hügel. Die Arbeiten kamen gut voran, was Kalerid in einen Zustand reinster Euphorie geraten ließ. Beinahe die ganze Nacht hatte er sich persönlich dazu herabgelassen, zwischen den schuftenden Menschen umherzuschreiten und diese bei ihrer Arbeit zu überwachen. Immer mehr Gefangene waren inzwischen hinzugekommen, sodass es um den niedrigen Berg nur so von Menschen wimmelte. Noch nie hatte der Paratul eine solch riesige Menschenmenge um sich herum versammelt gesehen - nicht einmal während des Sommerfestes, das die Zurnamer Bürger jedes Jahr auf dem Hügel veranstalteten, nicht ahnend, auf welch undenkbarem Schatz sie die erste Sommernacht des Jahres durchtanzt haben sollten.

      Von dem saftigen Gras, für das Elland bekannt war und das den gesamten Paratul bedeckt hatte, war wenig übrig geblieben. Die wenigen schlanken Bäume und die niedrigen Büsche waren aus dem Boden gerissen worden. Der Untergrund war nur noch eine schlammige Masse.

      Erst, als die Nacht beinahe vorüber gezogen war, zog Kalerid sich in das für ihn errichtete Zelt zurück. Zuvor hatte er noch einen Trupp seiner Wachen nach Zurnam geschickt. Sie sollten weitere Schaufeln, Spaten und Pickel aus dem geplünderten Dorf besorgen, um die neu angekommenen Gefangenen damit zu versorgen. Trotzdem reichte die Ausrüstung lange nicht für jeden. Viele mussten gezwungen werden, mit ihren bloßen Händen die nasse, schmierige Erde abzutragen.

      Hondor erschien es bereits eine Ewigkeit, die er damit verbracht hatte, seine Hände in die feuchte Erde zu graben und sie nach hinten wegzuschaufeln. Usadim hatten sie befohlen, sie von dort in große Tongefäße zu packen, die er sich mit einem Lederriemen auf den Rücken laden konnte, um sie ein Stück entfernt abzuladen. Die beiden Männer arbeiteten verbissen, aber ihre Kräfte ließen mehr und mehr nach. Hondors Hände waren blutig und die Fingernägel brüchig und abgerissen. Strähnig und stumpf klebten ihm die braunen Haare an der Stirn, seine Kleidung war zerschlissen und starr vor Schmutz. Sein verdrecktes, schweißbedecktes Gesicht hatte verkrustete Schrammen und seine Miene war starr. Er war nicht mehr fähig, irgendeinem Gefühl Ausdruck zu verleihen. Die Schmerzen in seinen Gliedern waren beinahe unerträglich und er fragte sich, wie lange er wohl noch durchhalten mochte.

      Zorina kämpfte dicht neben ihm mit sich und dem immer fester werdenden Erdboden. Schwer atmend stützte sie sich auf ihre Schaufel, dankbar dafür, sie zu haben, denn sie verlieh ihr letzten Halt. Ein Stück entfernt hockte Kurena auf dem Boden. Die alte Frau war schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Trotzdem ließen die Wachen sie in Ruhe, beachteten sie nicht. Sie hatten schon lange keine Zeit mehr, sich um die Schwachen und Kränklichen zu kümmern, denn die Gruppe ihrer Arbeiter war mittlerweile so groß geworden, dass sie Schwierigkeiten hatten, den Überblick zu bewahren. So schenkten sie ihre Aufmerksamkeit in erster Linie denen, die ihrer Sache am dienlichsten waren, sorgten dafür, dass sie ihre Aufgabe erfüllten. Kalerid hatte angedroht, sich Maßnahmen für diejenigen zu überlegen, die den Anforderungen nicht gewachsen waren, aber auch dies konnte die Meisten nicht zum Weiterarbeiten überreden und so ließ er sie gewähren. Tote hätten nur wieder mehr Arbeit verursacht und seine Pläne verzögert.

      Hinter sich hörte Hondor, wie Usadim wieder eine weitere Fuhre Erde ächzend auf seinen breiten Rücken lud. Die Hände des stämmigen Küchenmeisters waren von offenen Blasen übersät und als Hondor über seine Schulter blickte und ihn davonstapfen sah, war sein Gang tief gebeugt.

      Hondor wartete seit einiger Zeit darauf, dass seine Gruppe endlich abgelöst werden würde. Er hatte schon bei Sonnenaufgang damit gerechnet. Zwar ließen die Sellag unter ihren Arbeitern Wasser und hin und wieder etwas Brot verteilen, aber bisher gab es noch keine Anzeichen auf ihre Erlösung. Hondor kam zu dem Schluss, dass die Sellag entweder vergessen hatten, die Gruppen abwechselnd arbeiten zu lassen, oder dass sie in ihrer Gier von diesem Plan wieder abgekommen waren. Die schuftende Masse um den Hügel war so groß, dass sich der König kaum vorstellen konnte, dass es noch weitere Gefangene innerhalb des Lagers geben sollte.

      Als die Sonne ein Stück den Horizont hinauf gekrochen war, kam dann plötzlich freudiger Aufruhr in die Reihen der Sellag. Die Gefangenen waren zu erschöpft, irgendetwas zum Ausdruck zu bringen, sofern sie überhaupt etwas empfanden; bestenfalls eine Art von Erleichterung über eine kurze Pause.

      »Holt Kalerid!«, hörte Hondor die Wachen rufen. »Holt den Heerführer! Das muss er sehen.« klang es zwischen den Sellag.

      Hondors Neugier war geweckt. Zwar schmerzten seine Beine, als er sich aus der Hocke erhob und sich ein Stück von seinem Platz entfernte, aber er wollte sehen, was einen solchen Tumult verursachte. Er sah, dass Zorina ihm folgte, wenn auch nur mühsam, und auch Usadim, der gerade eine weitere Ladung Erde davon schleppen wollte, ließ sein tönernes Gefäß auf den Boden sinken und kam ihnen nach. Sie waren einige der wenigen Gefangenen, die sich noch auf den Beinen halten konnten. Die meisten saßen schwer atmend auf dem Boden, dankbar, endlich eine Pause zu bekommen, da die Wachen nun mit etwas anderem beschäftigt waren.

      Als Hondor und seine Gefährten den Hügel ein Stück umrundet hatten, stießen sie auf eine ganze Horde Sellag, die sich aufgeregt um etwas scharrten, das sich im oder an dem Hügel zu befinden schien. Zu seinem Bedauern konnte Hondor nicht erkennen, worum es sich handelte, denn die Sellag versperrten ihm den Blick.

      »Sie scheinen etwas gefunden zu haben«, flüsterte Zorina ihm zu, als sie endlich zu ihm aufgeschlossen war.

      Der König nickte. »Ich möchte wissen, was es wohl sein mag«, entgegnete er und reckte noch ein wenig den Kopf.

      Usadim brachte nur ein unartikuliertes Brummen zustande. Dann wurden sie unsanft zur Seite gestoßen.

      Kalerid hatte in seinem Zelt einem ausgiebigen Morgenmahl gefrönt. Das lange Umhergehen hatte ihn hungrig werden lassen. Anschließend begab er sich sogleich wieder hinaus. Er konnte wunderbar das Gefühl der Macht und das Prickeln der Vorfreude genießen, wenn er zwischen den arbeitenden Gefangenen stand. Zudem war er sich nur auf diese Weise sicher, dass ihm nichts vorenthalten blieb.

      Während der Heerführer zufrieden den Fortschritt der Grabungsarbeiten beobachtete, ließ er sich von Rofin über das, was von den Spähern und Boten aus seinem neuen Reich zusammengetragen wurde, Bericht erstatten. Er hatte eine Nachricht von Marek erwartet, aber diese war ausgeblieben. Kalerid begann, Groll gegen seinen Lakaien zu hegen und er bereute, dass er sich nicht von Anfang an selbst um diese Angelegenheit gekümmert hatte.

      Dafür war eine andere, unerfreuliche Nachricht eingetroffen: Zwar war nun beinahe ganz Allendas in der Hand seiner Männer, aber ein verspätet eingetroffener Truppenführer aus einem abgelegenen Gebiet im Norden, den man aus Alland Pera nach Zurnam weitergeleitet hatte, berichtete von einer Festung (einen anderen Begriff dafür kannte er nicht) namens Bernam, die nahe der nördlichen Grenze lag und sich vehement den Eroberern widersetzte. Der Truppenführer konnte nicht genau erklären, um wen es sich handelte, aber sie besaßen eine Festung, in der sie sich verschanzt hielten und waren gut mit Waffen und Rüstungen ausgestattet. Zwar war die gesamte Festung von Sellag-Truppen umlagert, aber es war ihnen noch nicht gelungen, sie einzunehmen. Es würde allerdings nicht mehr lange dauern, versicherte der Truppenführer. Mit ungehaltenen Worten schickte Kalerid ihn wieder zurück und wies ihn an, die Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Der Heerführer war sich nicht bewusst, dass nicht weit entfernt einer der hart arbeitenden Gefangenen nicht weniger interessiert den Berichten aus Allendas lauschte. Hondor konnte die sellagische Sprache nicht verstehen, doch es fielen Namen, die er sehr wohl verstand. Und er konnte aus Kalerids Reaktionen seine eigenen Schlüsse ziehen.

      Einige Zeit später wurden plötzlich begeisterte Rufe auf der anderen Seite des Paratuls laut, und einer von Kalerids niederen Untergebenen eilte, tief gebückt, auf den Heerführer zu, um untertänigst um seine Aufmerksamkeit zu bitten. Kalerid gewährte sie ihm und was er hörte, versetzte ihn in schiere Verzückung. Hastig ließ er sich von seinem Untertan zu der Entdeckung führen. Rofin beeilte sich, ihnen zu