Peter P. Karrer

Lord Geward


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Das Unerwartete überrollt mich im größten Frieden, nichts ahnend, es könnte hier im Paradies etwas Böses geben.

      Seit langer Zeit greife ich wieder nach meiner Waffe, aber der Griff geht ins Leere. Zufrieden mit mir und der Welt, hatte ich sie schon vor Wochen gegen meinen bequemeren und praktischeren Wanderstock eingetauscht und sie achtlos gegen den Kamin gelehnt und eigentlich schon längst vergessen.

      Die Staubwolke, die immer bedrohlicher wird, hält wie ein reißendes Tier, die Klauen nach mir ausstreckend, genau auf mich zu. Details kann ich noch nicht erkennen, aber es sind etwa zwanzig bis dreißig Pferde im wilden Galopp und weit auswehender Mähne, vor einer Wolke aus Staub herstürmend.

      Es sind große, schwarze und kastanienfarbene Tiere. Die meisten von ihnen tragen einen Reiter, einige dienen nur zum Lastentransport. Soweit ich es erkennen kann, tragen drei der Reiter eiserne Rüstungen.

      Ich kann meine Panik kaum mehr beherrschen. Will mich einfach tot stellen. Ja, der Tod wäre die Lösung.

      Die Welle der anrollenden Gewalt verlangsamt sich und hält keine hundert Meter vor mir am Fuß des Hügels an.

      Ein hünenhafter, mindestens zwei Meter großer, breitschultriger Krieger, der offenbar das Kommando führt, brüllt seinen Begleitern etwas zu. Es ist unheimlich, der Krieger verwendet eine Sprache, die ich sicher noch nie zuvor gehört hatte und doch verstehe ich jedes Wort.

      Offensichtlich bin ich nicht ihr Ziel, sie haben mich noch nicht einmal entdeckt. Trotzdem begreife ich zweifelsfrei, sie verfolgen jemanden, den sie offensichtlich verloren haben.

      Ein zweiter Reiter, der in gebührendem Abstand hinter dem ersten sein Pferd stoppte, lässt es jetzt wenige Schritte nach vorne gehen, um auf gleicher Höhe zu stehen.

      Er richtet das Wort an den Hünen, den er mit, »Mein König« anspricht. Offensichtlich bezweifelt er den Nutzen einer weiteren Verfolgung. Er endet mit einer angedeuteten Verbeugung: »Nie, sind Landlose so weit gekommen, mein König.«

      Der Hüne entgegnet ihm freundlich aber bestimmt: »Ihr habt Recht, lasst uns hier lagern und Morgen zurückreiten.«

      Einige der Männer beginnen die Füße der Pferde zu binden, während andere Zelte mit riesigen Mittelstangen aufbauen. Vor dem größten Zelt errichten sie einen mindestens drei Meter hohen Fahnenmast, an dem sie ein gigantisches Banner stecken.

      Das tiefrote Banner ist aufwendig mit goldenen Stickereien verziert. Die untere Mitte ziert ein überlebensgroßer Raubvogel, der seine Krallen in einen Totenschädel vergräbt. Über dem Raubvogel erkenne ich ein Wappen aus dunkelblauen und gelben Rauten, ebenfalls mit einem Greifvogel auf einem Schädel. Oben wird das Banner mit einer Querstange geführt, an deren Ende je ein kleiner, menschlicher Schädel an einer langen Quaste hängt. An der Unterseite des Banners hängen mehrere, dreißig Zentimeter lange, in Gold eingefasste Pfauenfedern.

      Männer, die offensichtlich Holz holen waren, legen in unglaublicher Geschwindigkeit eine Feuerstelle an.

      Zwei kleine und sehr junge Reiter, vielleicht fünfzehn Jahre alt, die mir bisher nicht aufgefallen sind, reiten mit je einem Raubvogel am Sattel genau in meine Richtung.

      Mit vorsichtigen Rückwärtsbewegungen, einer Schlange gleich, ziehe ich mich aus der vermuteten Zielrichtung zurück. Zusätzlich finde ich Schutz unter einem entwurzelten Baum.

      Die beiden, in schweres dunkles Leder gekleideten Reiter nähern sich immer schneller meinem Versteck.

      Keine zehn Pferdelängen entfernt werden ihre Pferde plötzlich unruhig. Nur mit größtem Geschick gelingt es ihnen die steigenden Pferde zu beruhigen. Auch die Vögel stoßen gellende Pfiffe aus, als wollten sie schreien, »Hier ist er Euer Gesuchter, hier unter dem alten Baum!«

      Der erste, dicht gefolgt von dem zweiten Reiter, dirigiert sein Pferd einige Schritte rückwärts, um es zu beruhigen.

      Die markerschütternden Schreie der Greifvögel verstummen, aber die Nervosität ist ihnen noch deutlich anzusehen.

      Vier Augen suchen jetzt, wie eine Zieloptik, jeden Meter der Umgebung ab. Die gezogenen Schwerter ähneln meinem zum verwechseln, nur meines lehnt sicher und behütet am Kamin. Obwohl ich mir sicher bin auch mit meiner Waffe gegen die kampferprobte Übermacht nichts ausrichten zu können, würde mein Schwert mich doch beruhigen.

      Was bin ich nur für ein Narr?

      Immer weiter drücke ich mich unter den Stamm.

      Sekunden später geschieht das Unausweichliche.

      Die Augen des ersten Reiters treffen die meinen. Schlagartig weicht jedes Blut aus meinem Gesicht. Ich bin erstarrt und unfähig nur die kleinste Bewegung zu wagen.

      Der Reiter ist zweifellos jung, maximal fünfzehn, wahrscheinlich nicht einmal das; er könnte mein Sohn sein, aber sicher ist er mir an Kraft und Geschick weit überlegen.

      Seine Worte treffen mich wie Pfeile: »Rauskommen, zum Lager!«

      Keines der beiden Vögel trägt eine Kappe über den Augen, wie ich es einmal in einer Falknerei sah. Ich spüre die nackte Gier der Raubvögel, mich zu zerfleischen, die Krallen in mein Gesicht zu schlagen, den Schnabel in meine Augen zu hacken. Wie zur Bekräftigung meiner Ängste, schreien sie mir laut ihren Zorn entgegen.

      Mit meiner Eskorte, die mich in leichtem Trab vor sich hertreibt, stolpere ich Richtung Lager.

      Im Lager angekommen, stoppt mich der Ausruf: »Halt!«

      Augenblicklich bleibe ich, einer Salzsäule gleich, stehen. Ich wage nicht mich umzudrehen, nicht einmal aufzublicken. Ich starre den Boden an, als würde ich ihn beschwören, mich zu verschlingen.

      Ich höre einen Reiter absteigen, höre das Geräusch Leder auf Leder, Kleidung auf Sattel. Als er dicht an mir vorbei geht, erkenne ich in ihm den zweiten Häscher, der offensichtlich noch jünger als der andere ist.

      Unmittelbar nach dem er in einem Zelt verschwindet, tritt der Hüne heraus und direkt auf mich zu.

      Seine stechenden Augen ängstigen mich noch mehr als sein Schwert, das so groß ist, dass das meine daneben wie ein Dolch gewirkt hätte oder bilde ich mir alles nur ein?

      Er ist sicher nur wenige Jahre älter als ich, auch wenn der ergraute Bart ihm Alter und Würde verleiht. Ohne ein Wort mustert er mich von oben bis unten, um schließlich seine Augen wieder in die meinen zu bohren.

      Zitternd spüre ich eine unnatürliche Wärme zwischen meinen Beinen, ich spüre die Nässe an meinen Schenkeln nach unten laufen. Meine Blase konnte der Anspannung und der Angst nicht mehr standhalten. Ein nichtendender Schwall an Urin bahnt sich seinen Weg nach unten. Ich kann nicht aufhören. Ich stehe bereits in einer beachtlichen, dampfenden Pfütze, aber ich kann nicht aufhören. Es läuft immer noch und ich kann den Strom nicht stoppen, bis nicht auch der letzte Tropfen Urin seinen Weg in die Freiheit gefunden hat.

      Die Augen meines Gegenübers verändern sich und sein Mund wird schärfer.

      Mein Gott, das ist das Ende. Ich sehe das Schwert mich enthaupten, sehe Blut spritzen, sehe meinen Kopf ins Feuer rollen und höre das Lachen, höre das...

      Höre das Lachen des Hünen, ein ungestümes Lachen aus einem weit aufgerissenen, mit schlechten Zähnen gespickten Mund.

      Immer lauter höre ich das ungestüme Lachen.

      Ich lebe, bin nicht geköpft, lebe und höre immer noch das Lachen. Einer nach dem anderen steigt in das befreiende Lachen ein.

      Beinahe lache ich mit. Ich entspanne mich, sinke mit beiden Knien in den nassen Sand, spüre nichts, bin nur erleichtert, nicht tot. Ich lebe.

      Langsam, ganz langsam, nach endlosen Minuten, die mir wie Stunden erscheinen, beruhigt sich das Gelächter und ebbt allmählich ab, in ein Schnaufen und Grunzen. Mit abklingender Geräuschkulisse richtet der Hüne sein Wort an einen am Feuer stehenden, gut genährten, immer noch prustenden Mann: »Er soll sich waschen, dann gebt ihm trockene Sachen und bringt ihn zu mir.«

      Erst