Sören Kalmarczyk

Telepathenaufstand


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„Bitte mal fünf Kaffee und in einer Stunde noch mal fünf!“

      Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er die Tür und setzte sich hin. Die Psychologin ignorierte er völlig. Sie ihn allerdings ebenso.

      Keiler legte eine Hand auf den Tisch zwischen sich und Franzi, gerade so in ihrem Sichtbereich. Das brachte sie dazu, den Blick zu heben und ihn anzuschauen.

      „Sie sind nicht die erste, der so etwas passiert“, sagte er ohne weitere Einleitung.

      Franzi schaute ihn verwirrt an: „Sie wissen, was los ist?“

      „Wir haben eine Theorie“, erwiderte er, „Ihre Erinnerungen sind in der falschen Reihenfolge? Und Sie vergessen alles nach ein paar Minuten wieder? Sie fühlen sich müde?“

      Franzi nickte bei jeder Frage.

      Keiler redete weiter: „Wir wissen noch nicht, wie es passiert. Strahlung, Mikrowellen, Geräusche, irgendwas anderes. Jedenfalls wurde ihr Gedächtnis gelöscht.“

      Franzi faltete die Finger, um irgendwas zu haben, woran sie sich festhalten konnte. Alles schien sich zu drehen.

      Kommissar Keiler kümmerte sich nicht darum und verhörte sie weiter.

      „Warum waren Sie da? Was wollten Sie?“

      Franzi sah hilfesuchend zu Andrea, doch Keiler fuhr dazwischen: „Hier bin ich! Antworten Sie auf meine Fragen!“

      Mit Tränen in den Augen begann Franzi zu reden und schilderte, was sie wusste.

      „Wie lange waren Sie in dem Raum?“

      „Ungefähr zwei Stu…“

      „Wann sind Sie dort angekommen?“

      „Was? Oh, das war so gegen fünf…“

      „Haben Sie die Tür mit der rechten oder der linken Hand geöffnet?“

      In Franzi stieg allmählich die Wut hoch. Wieso ließ er sie nicht wenigstens ausreden, bevor er die nächste Frage stellte?

      Andrea ging dazwischen: „Was soll das? Ist sie jetzt eine Verdächtige, oder was?“

      Der Kommissar sah sie an: „Raus!“

      „Nein!“, rief Franzi da.

      Andrea war ihre einzige Stütze in diesem Augenblick und sie wollte nicht allein sein. Sie wurde panisch und zugleich rasend vor Wut. Plötzlich erinnerte sie sich an alles.

      Der Kommissar sah in ihre Augen, griff in seine Tasche und holte ein Diktiergerät heraus, das er einschaltete, während Franzi zu reden anfing.

      „Ich hatte das Buch schreiben wollen und dann habe ich es im Internet gefunden. Ich habe es bestellt und gelesen und es war MEIN Buch! Diese Steffi hatte sogar die Praxisanordnung beschrieben, die ich im Puppenhaus meiner Tochter zusammengestellt hatte. Alles war genau so, wie ich es veröffentlichen wollte! Also habe ich nach der Frau gesucht und wollte sie zur Rede stellen. Ich habe die Tür aufgestoßen. Mit der rechten Hand!“

      Keiler schmunzelte etwas. Die Frage blieb immer hängen. Franzi redete weiter ohne Punkt und Komma.

      „Ich habe sie angebrüllt und wollte von ihr wissen, wie sie das wissen konnte. Ich fragte sie, ob sie meine Gedanken gelesen hat, als sie vor ein paar Wochen bei uns in der Arztpraxis war. Sie war ja nur kurz drin, hat mich ein paar Sekunden angeschaut, dann ging sie raus und schrieb dieses verdammte Buch! Auf einmal quatschte mich dieser Weihnachtsmann von hinten an und sagte, ich soll mich beruhigen. Dann wollte ich den zusammenfalten. Ich konnte mich auf einmal nicht mehr bewegen. Ich habe nur noch seine Augen gesehen. Ich hörte ihn reden, aber die Stimme kam von überall.“

      Die Psychologin und der Kommissar tauschen einen kurzen Blick. So viele Details waren neu. Franzi sprach unterdessen weiter.

      „Er sagte, ich soll vergessen, warum ich da war. Und auf einmal wusste ich es nicht mehr. Dann sagte er, ich sollte vergessen, dass ich da war und zeigte raus. Ich sollte gehen. Also ging ich. Ich ging genau zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte. Dann hatte ich vergessen, warum ich da war. Aber ich wusste, ich hatte mir ein Buch gekauft. Und dann kam Andrea. Ich wollte das Buch lesen. Oder habe ich es schon gelesen?“

      Kommissar Keiler hob die Hand: „Danke, das reicht.“

      An Andrea gewandt sagte er: „Ich musste sie wütend machen. Nach unserer Erfahrung können starke Gefühle den Gedächtnisverlust kurz aufheben. Aber, wie Sie sehen“, er wies mit der Hand auf Franzi, „nicht für lange. Am Ende geriet wieder alles durcheinander.“

      Die Psychologin führte Andrea und Franzi sanft zur Tür und versprach, dass sie sich um alles kümmern würden. An der Tür der Wache hielt sie Andrea noch einmal kurz auf.

      „Nehmen Sie ihr das Buch am besten weg. Wir wissen noch nicht, ob es ihr schaden kann, wenn die Erinnerungen immer wiederkommen und wieder verschwinden. Vielleicht vergisst sie für eine Weile das Buch komplett.“

      Sie gab Andrea noch die Karte einer Therapeutin, die sich um Franzi kümmern sollte, damit sie dieses Erlebnis verarbeiten kann, dann ging sie wieder in das Büro zurück, in dem der Kommissar saß und sich gerade die Aufnahme noch einmal anhörte.

      Keiler sah hoch und hob entschuldigend die Augenbrauen. „Tut mir leid, Mila!“

      Sie wischte die Entschuldigung weg: „Sie wird sich sowieso nicht daran erinnern, ob du mich nun begrüßt hast oder nicht.“

      Sie griff zum Telefon und wählte eine ziemlich lange Nummer. Als sich am anderen Ende jemand meldete, sagte sie: „Dr. Siewert hier. Wir haben einen neuen Fall.“

      Sie legte auf und setzte sich zu Keiler an den Tisch: „Also, Franz. Was meinst du?“

      Franz Keiler nestelte an dem Aufnahmegerät herum, während er überlegte. „So detailliert. Das ist eine völlig neue Dimension.“

      „Wir hatten auch noch nie einen Fall, der so frisch war.“, entgegnete die Psychologin.

      Doktor Mila Siewert war Fachärztin für Psychologie an der Charité in Berlin. Sie forschte seit einigen Jahren auf dem Gebiet der übersinnlichen Wahrnehmung. Franz Keiler ermittelte in einem ähnlichen Gebiet für das Landeskriminalamt Berlin. So waren sich die beiden schon häufiger begegnet.

      Bisher waren alle Opfer jedoch schon längst wieder vom Alltag eingeholt, wenn die Befragung begann. Aber dieses Mal hatten sie einen ganz frischen Fall. Quasi ein Opfer direkt vom Tatort weggefischt.

      Keiler wiederholte: „Er sah ihr in die Augen und befahl ihr, zu vergessen, warum sie da war. Das könnte noch Hypnose gewesen sein.“

      Dr. Siewert nickte. „Aber die Stimme kam von überall her. Oder besser gesagt, sie hörte sie nur in ihrem Kopf.“

      Der Kommissar klopfte mit dem Finger auf den Tisch. Wieder und wieder rollte er das, was er an diesem Abend gehört hatte, im Gedächtnis hin und her. Er suchte nach irgendeiner anderen Erklärung, aber keine, die ihm einfiel, passte zu allen Fakten.

      Schließlich drehte er den Kopf zu Dr. Siewert und sagte, was sie beide dachten: „Telepathie.“

      „Und zwar beide. Mindestens“, ergänzte die Ärztin, „Die Frau hat sich das Buch aus dem Kopf des Opfers geholt und der Mann hat sie heute manipuliert und sie alles wieder vergessen lassen.“

      Gemeinsam schrieben sie die Berichte, einen kurzen, oberflächlichen für die Wache und einen sehr ausführlichen für die Abteilung LKA-ESP. Eine Abteilung, die offiziell gar nicht existierte.

      Der wachhabende Beamte nahm den Bericht entgegen und las: „Frau beim Betreten eines Ladengeschäfts mit Tür kollidiert, spezifischer Gedächtnisverlust, keine Anzeichen für Gewaltdelikte.“

      Er schaute den Kommissar und die Psychologin an: „Und dafür braucht es einen Seelenklempner, einen LKA-Ermittler und eine Gerichtsmedizinerin?“

      Kommissar Keiler zuckte mit den Schultern: „Lieber einmal zu viel ermitteln, als ein Vergewaltigungsopfer