Bettina Reiter

Maggie


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ja, und morgen ist Weihnachten.“ Alec nahm ihre Hand und zog sie lachend mit sich zum Wegweiser, der in einem Betonsockel verankert war. „Bis New York sind es 3.147 Kilometer“, las er von einer der Tafeln ab, die vermutlich nach Amerika zeigte. Bei Himmelsrichtungen streikte Maggies Verstand. „Das ist wenigstens realistisch.“

      Bis zum Seenotrettungskreuzer diskutierten sie über den Wahrheitsgehalt von Mythen und schlossen sich einer Gruppe Einheimischer an, die den Kreuzer ebenfalls besichtigten. Danach machten sie es sich auf einem Felsen gemütlich und verspeisten ihre mitgebrachte Jause.

      „Von mir aus könnte es ewig so weitergehen“, sagte Alec, schraubte die Wasserflasche zu und stellte sie neben sich auf die Erde.

      Besorgt schaute Maggie zu ihm. „Du klingst resigniert.“

      „Das bin ich auch“, gab Alec offen zu. „Die Sache mit der Farm macht mir zu schaffen. Dads Erwartung in mich. Derzeit bin ich nicht einmal sicher, ob ich mein Erbe überhaupt antreten will.“ Sollte sie recht gehabt haben? Lag es tatsächlich daran? War die Farm dieser unsichtbare Feind? Wie auch immer, offensichtlich überforderten ihn die Fußstapfen, in denen Hank ihn sehen wollte.

      „Du musst nicht heute entscheiden, was du in einigen Jahren tun möchtest. Also lass dir Zeit und vor allem überstürze nichts.“ Maggie legte das halbgegessene Brot in die grüne Tupper-Dose zurück.

      „Um es mir nicht mit Dad zu verscherzen?“ Sein Blick verlor sich in den Weiten des Atlantiks. „Du hast gut reden und steckst nicht in meiner Haut. Dad wäre imstande und würde mich von der Farm werfen. Sofern er es nicht ohnehin tut, sobald er von unseren Plänen erfährt.“

      „Auch dahingehend müssen wir keineswegs sofort Nägel mit Köpfen machen.“

      „Ich will nicht länger warten, Mag’. Immerhin musste ich bereits einen Traum begraben.“

      „Du kannst immer noch Tierarzt werden.“

      „Das musste ja jetzt kommen“, beklagte er sich. „Deswegen habe ich die Sache bis vor kurzem für mich behalten. Mit Ausnahme von Mom, die schon lange die Wahrheit kennt. Vor allem kennt sie Dad, und hat mich deshalb nie ermuntert, meinen Traum zu verwirklichen. Du dagegen hättest es getan, Mag’, was kein Vorwurf sein soll.“ Nach wie vor war sein Gesicht dem Atlantik zugewandt. „Weil du immer daran geglaubt hast, dass Träume wahr werden können. Aber so ist es leider nicht, denn manchmal muss man sie fliegen lassen.“ Alec deutete zur Landspitze. „Alles hat irgendwann ein Ende, sobald einen das Leben einholt.“ Maggie suchte nach Worten, doch ihr fielen keine passenden ein. Deswegen fasste sie nach seiner Hand, die eiskalt war. Schwerfällig wandte er sich ihr zu. Alecs offenkundige Traurigkeit schnitt ihr ins Herz und seine Augen waren glasig, was sie erschreckte.

      „Du hast recht, ich hätte dich ermuntert“, bestätigte Maggie. „Auch jetzt bin ich nahe daran. Trotzdem werde ich es nicht tun. Allerdings bin ich an deiner Seite, egal, was die Zukunft bringt. Denn eines weiß ich genau: Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“

      „Du bist eine unverbesserliche Optimistin, Higgins.“ Alec zog sie an sich. „Aber genau dafür liebe ich dich.“

      ♥♥♥

      Alec knipste die Nachttischlampe an. Eine schmucklose Glühbirne. Den fehlenden grünen Schirm hatte er auf dem Gewissen. Als kleiner Junge wollte er ein Segelschiff bauen, wofür er den Stoff brauchte. Das übriggebliebene Gestänge hatte er hinter dem Haus vergraben.

      Leider war die kleine Nussschale nicht weit gekommen. Von der ersten Welle mitgerissen, sank sie wie ein Stein. Ein weiteres – wenngleich kleineres – Wrack am Meeresgrund, von denen es angeblich an die achthundert vor den Scilly-Inseln geben sollte. Deswegen zog das Gebiet Wracktaucher förmlich an.

      Das Licht flackerte.

      Abwesend warf Alec einen Blick auf seine silberne Armbanduhr. Erst kurz nach vier! Trotzdem konnte er nicht schlafen, weil die Sorgen wie ein Bleimantel auf ihm lasteten, der ihn schier erdrückte. Mitsamt diesem hässlichen Gefühl, nichts an der Situation ändern zu können.

      Vorsichtig drehte er sich auf die Seite, stützte seinen Kopf auf die flache Hand und betrachtete Maggie, die tief und fest schlief. Ihre Lippen waren halb geöffnet und die Lider zuckten, als würde sie träumen. Stand sie wieder auf Land’s End und stellte sich dem Wind entgegen? Nie hatte sie schöner ausgesehen als in diesem Moment. Ihre kastanienbraunen Augen hatten vor Übermut gefunkelt, in denen so vieles stand. Lebenslust, Freude und die Liebe zu ihm. Dieser Faszination hatte er sich nicht entziehen können und war wie hypnotisiert gewesen.

      Unvermittelt huschte ein Lächeln über ihr zartes Gesicht. Mona Lisas Lächeln. Alec hätte Maggie am liebsten an sich gezogen. Ganz fest, um sie nie mehr loszulassen. Aber das würde er tun müssen, ob er wollte oder nicht … nein, eigentlich hatte er keine Wahl.

      Die Wut kam zurück. Mit geballter Kraft. Dennoch schlug er bedachtsam die Decke zurück und glitt mit Blick auf Maggie aus dem Bett. Der Holzboden knarrte, als er zur halboffenen Tür tapste. Im Flur tastete er sich an der Wand entlang zur Treppe und ging ins Erdgeschoss hinunter. Erst in der Küche schaltete er das Licht ein und beschloss, sich einen Kakao zu machen. Als er den Kühlschrank öffnete und die Milch herausnahm, dachte er daran, wie viele alltägliche Handlungen selbstverständlich waren. Man tat sie einfach, ohne darüber nachzudenken.

      Ermattet goss er die Milch in den kleinen Topf auf dem Herd. Maggie stellte ihn stets vor dem Schlafengehen bereit, um morgens Zeit zu sparen. Ahnungslos darüber, was für ein Geschenk es war, Zeit zu haben. Ihm zerrann sie zwischen den Fingern, denn seit gestern wusste er, dass er unheilbaren Blutkrebs hatte. Christin hatte ihn am frühen Morgen angerufen, als er gerade auf den Laden für Rucksäcke zugegangen war.

      Kaum hatte er Christins Namen auf dem Display gesehen, durchlief es ihn heiß und kalt. Sie wollte sich nur melden, sofern es sich nicht vermeiden ließe. Alec hatte sofort geahnt, dass nach diesem Anruf nichts mehr so sein würde wie zuvor.

      „Hi, Alec.“ Jede Silbe hatte er sich gemerkt. Ihr Zögern und die Art, wie sie hörbar einatmete. „Ich störe dich nur ungern im Urlaub, aber dein Befund ist da. Könntest du gleich heute kommen?“

      „Wie schlimm ist es?“, hatte er sie trotz seiner Befürchtung gefragt.

      „Das kann ich dir am Telefon nicht sagen, aber Doktor McGarret wird dir alles erklären.“

      „Ich brauche keine Erklärung, nur Gewissheit!“, wurde er unwirsch. Mit dem Gefühl, dass seine Beine nachzugeben drohten, war er geschwächt an den Baum hinter sich gesunken. „Habe ich eine Chance oder nicht?“ Dumpf, wie in einem luftleeren Raum, hatte er die eigene Stimme gehört.

      In der Leitung war es eine Weile still gewesen. „Der Krebs hat gestreut. Es sieht schlimm aus. Zudem leidest du an einer äußerst aggressiven Form.“

      „Was ist mit einer Chemo?“

      „Doktor McGarret hat sich mit deinen behandelnden Ärzten beraten. Alle denken, dass sie angesichts deiner Werte wenig Aussicht auf Erfolg hätte. Aber du kennst unseren Doktor. Damit wollte er sich nicht zufriedengeben. Stundenlang hat er sich mit deinem Fall befasst und sogar seinen Sohn Finley zu Rate gezogen. Er ist einer der führenden Krebsspezialisten in Deutschland. Bedauerlicherweise schloss sich dieser der Meinung seiner Kollegen an. Seitdem ist Doktor McGarret ziemlich durch den Wind.“

      Er hatte zu zittern begonnen. „Wie lange noch?“

      „Bitte, Alec, besprich wenigstens das mit Doktor McGarret.“

      „Verflucht, Christin, wie lange?“ Einige Passanten hatten sich verwundert zu ihm umgedreht. Andere warfen ihm verstohlene Blicke zu. Aber das war ihm egal gewesen.

      „Ein halbes Jahr vielleicht. Doktor McGarret möchte mit dir über eine eventuelle Medikation …“

      Im selben Augenblick war ihm das Handy entglitten und ins Gras gefallen. Die Kirche vor ihm verschwand hinter einem Tränenschleier, wie alles um ihn herum. Er hatte jegliches