Walter Brendel

Die Macht der Geheimbünde


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Gottesdienstliche Vollzüge sind generell stark von Ritualen geprägt

      Rituale sind häufig im Bereich der Religion verankert. Derartige Rituale fördern den Zusammenhalt religiöser Gruppen. So ergab die Auswertung von Daten über 83 US-amerikanische Religionsgemeinschaften aus dem 19. Jahrhundert, dass Reli-gionsgemeinschaften desto langlebiger sind, je stärker sie von Ritualen und festen Verhaltensregeln bestimmt sind. Für weltliche Gemeinschaften lässt sich ein solcher Zusammenhang angeblich nicht feststellen.

      Mit Ritualen beschäftigen sich eine Reihe von Sozialwissenschaften, unter anderen die Soziologie, die Psychologie, die Ethnologie, die Pädagogik und die Politikwissenschaften.

      Soziologisch lassen sich Rituale in allen Gesellschaften beobachten. Beispielsweise ermöglichen Macht-, Unterwerfungs-oder Kampfrituale die Klärung oder Festigung sozialer Rangordnungen und vermeiden gleichzeitig verlustreiche physische Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe (vgl. Ritualisierung im Tierreich). Rituale sind einem ständigen Wandel unterworfen. Sie erneuern sich und treten in veränderter Gestalt in die gewandelte gesellschaftliche Wirklichkeit. So lassen sich etwa moderne soziale Rituale in gesellschaftlichen Kontexten wie dem Sport, dem Personenkult, der Jugendkultur und der Werbung erkennen.

      Ethnologisch sind beobachtbare Rituale vielfach ein Einstieg in die Erforschung von Stammeskulturen.

      Auch in der Psychotherapie spielt die Ritualisierung eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe sollen Ordnungen wiederhergestellt werden, wo sie nicht mehr als Struktur vorhanden sind. Auch die struktur- und bedeutungsstiftende Kraft von Ritualen für den sozialen Zusammenhalt von Gruppen soll im therapeutischen Raum nutzbar gemacht werden. Auf symbolische Weise wird der Kern der Gesamtproblematik herausgearbeitet. Rituale und symbolische Handlungen (z. B. eine Versöhnungsgeste) unter-stützen den Therapieerfolg etwa in der Familientherapie und können einen bindungsverstärkenden Einfluss in der Paarbeziehung ausüben.

      Zunehmend wird auch in der neueren Schulpädagogik, insbesondere in der Grundschule, bewusst mit Ritualen gearbeitet, um den Unterricht zu strukturieren und lebendiger zu machen. Auch früher waren Rituale im Schulalltag gang und gäbe (z. B. Aufstehen, wenn der Lehrer den Klassenraum betritt; Morgengebet).

      Auch in der Politik spielen Rituale von jeher eine bedeutende Rolle. In jüngerer Zeit sind besonders die inszenierten Rituale der Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts aufgefallen: die Moskauer Paraden zum 1. Mai, der „Römische Gruß“ der italienischen Faschisten, die „Fahnenweihen“ der Nazis am 9. November u. a. m. Der US-amerikanische Politologe Murray Edelman (1919-2001) hat in seinem Werk Politik als Ritual den Standpunkt zur Geltung gebracht, dass auch moderne Demokratien Rituale zu propagandistischen Zwecken einsetzen. Er geht dabei insbesondere auf den „mythisierenden“ Gebrauch von Ritualen ein, d. h. den Ersatz eines eigentlich not-wendigen oder verlangten politischen Handelns durch ritualisierte (Schein-)Maßnahmen und Debatten, die nur den Eindruck erwecken, dass etwas geschieht, obwohl die zugrundeliegenden Probleme in Wirklichkeit ungelöst bleiben. So können Wähler durch „bloß symbolische“ Rituale gewonnen oder überzeugt werden, auch wenn die tatsächliche Politik ihren Interessen rein sachlich betrachtet nicht oder zumindest nicht in demangenommenen Maße dient. Die starke Abhängigkeit politischen Handelns in demokratischen Systemen von der Öffentlichkeitswirkung begünstigt diese Entwicklung. Das „Ritual“ in Edelmans Definition wird auf diese Weise zu einer Art „Selbstzweck“ der Politik.

      Tempelarbeit

      Die Tempelarbeit oder Logenarbeit bezeichnet eine geschlossene rituelle Versammlung der Freimaurer. Der Begriff wurde, ebenso wie manche andere freimaurerische Eigenheiten, auch von den Mormonen für ihre nichtöffentlichen Tempelrituale übernommen.

      Den Raum, in dem das im Folgenden skizzierte Ritual zelebriert wird, nennen Freimaurer in ihrer Symbolsprache „Tempel“ in Erinnerung an den Salomonischen Tempel. Hierbei handelt es sich um ein Sinnbild des „Tempels der Humanität“. In der frei-maurerischen Symbolsprache fügt sich der einzelne Bruder als „Stein“ in den Gesamtbau dieses „Tempels“ ein.

      Das freimaurerische Ritual der Tempelarbeit verfolgt das Ziel einer freimaurerischen Sozialisation. Es vermittelt dem Einzelnen durch eine mündlich überlieferte Methode die freimaurerischen Werte durch Symbole und Allegorien, wobei Verstand und Gefühl gleichermaßen angesprochen werden. Der Freimaurer wird dabei nicht auf religiöse Inhalte oder metaphysische Glaubenssätze verpflichtet.

      Das Ritual bestärkt Logenmitglieder, am einmal eingeschlagenen Weg der Menschlichkeit festzuhalten - analog zur aristotelischen Überlegung, dass der Mensch nicht allein durch intellektuelle Reflexion sich zum Besseren entwickle, sondern hierzu des Einübens bedarf. So wird das Verständnis gemeinsamer ethischer Werte bei jeder freimaurerischen „Tempelarbeit“ in Erinnerung gerufen.

      Gemeinsame Identität wird dadurch gestiftet, dass jeder, der nach reiflicher Selbstprüfung dem Bund der Freimaurer beitreten möchte, ein für alle gleiches Aufnahmeritual durchläuft.

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      Initiation eines Suchenden, Stich, 1745 in Frankreich

      Die in den Tempelarbeiten vermittelten Werte sind nicht exklusiv. Es sind die allgemeinen Grundsätze der humanitären Tradition des Zeitalters der Aufklärung. Damit verbunden ist der emanzipatorische Anspruch, die Freiheit und Verantwortung des Individuums zu stärken.

      „Niemand soll und wird es schauen, was einander wir vertraut, denn auf Schweigen und Vertrauen ist der Tempel aufgebaut.“ Goethe: Verschwiegenheit, „Wenn die Liebste...“,Gedicht einer Freimaurerversammlung 1815 in Weimar.

      Das gegenseitige Vertrauen der Logenmitglieder ist ein wichtiger Grundsatz der Freimaurerei. Dieses kann jedoch nur dann wachsen, wenn sich jeder Bruder zur Diskretion verpflichtet. Vertrauliche Informationen der Privatsphäre anderer Mitgliedersollen nicht nach außen getragen werden.

      Diese Gewissheit gilt als Grundvoraussetzung für einen freien Ideen- und Meinungs-austausch.

      Das vom Freimaurer bei seiner Aufnahme geforderte Versprechen: „Verschwiegenheit zu bewahren über die inneren Angelegenheiten der Maurerei“ dient der Bewusstwerdung des moralischen Wertes, vertrauliche Informationen im Allgemeinen gewissenhaft zu bewahren und eingegangene Versprechen zuhalten.

      Traditionellerweise wahren Freimaurer Stillschweigen überfreimaurerische Erkennungszeichen (Zeichen, Passwörter, Handgriffe) und detaillierte Formen und Inhalte der Rituale. Das persönliche Ritualerlebnis selbst wird als freimaurerisches „Geheimnis“ umschrieben. Die individuelle Erfahrung der tieferen Erkenntnis vom Sinn des Lebens, der Freiheit und des Todes, die im freimaurerischen Ritual symbolisiert wird, entzieht sich gewöhnlich der Sprache.

      Ein weniger moralischer, aber dennoch unmittelbar einleuchtender Grund, Ritualinhalte nicht nach außen zu tragen, liegt darin, dass die Intensität des emotionalen Erlebens einer Aufnahme wesentlich geringer ausfallen würde, wenn der Ablauf dem Aufzunehmenden im Vornherein bekannt wäre. Trotzdem sind freimaurerische Rituale unzählige Male „verraten“ und veröffentlicht worden.

      Getragen wird der Ablauf des Rituals durch ein festgelegtes Wechselgespräch des Meisters vom Stuhl mit dem Ersten und Zweiten Aufseher.

      In kontinentaleuropäischen Logen gehört ein Vortrag des Redners über freimaurerische oder andere Themen zur Tempelarbeit (genannt Zeichnung).

      Der Feierlichkeit des Ereignisse angemessen, tragen Freimaurer zur Logenarbeit eine bestimmte traditionelle Bekleidung. Diese besteht heute u.a. aus einem dunklen Anzug oder Smoking, dem Schmuckabzeichen der jeweiligen Loge: dem so ge-nannten „Bijou“, dem symbolischen Maurerschurz, weißen Handschuhen und dem in manchen Logen noch üblichen sogenannten „hohen Hut“, einem Zylinder.

      Ritualtexte aus den Anfängen der Freimaurerei sind nicht erhalten, eine Rekonstruktion der ursprünglichen Gebräuche ist daher schwierig. Die Rituale waren im Laufe der Zeit häufig Veränderungen unterworfen und sind in der Freimaurerei nicht einheitlich; sie gleichen sich aber grundsätzlich in ihrem Aufbau der drei Johannisgrade.

      In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts