Ava Lennart

Mädchenname


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sie fortgegangen war, war er nicht mehr hier gewesen.

      Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, ließ er das eng beschriebene Papier in seinen Schoß sinken und starrte wieder eine Weile auf das Schattenspiel der Blätter auf den Steinplatten vor ihm.

      Sie war also tot.

      Er horchte in sich hinein. Die lang unterdrückten Gedanken an sie sammelten sich zu einem dumpfen Schmerz in seiner Brust. Mit jedem Bild seiner fernen Erinnerung nahm er still Abschied von dieser Frau. Als die Trauer abebbte – er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war –, sah er klarer als je zuvor: Sie hatte recht mit ihren Zeilen. Seine Entscheidung war die einzig richtige gewesen. Er bereute es nicht. Im Gegenteil. Er wurde sich erst in diesem Moment mit aller Klarheit bewusst, dass nichts anders sein sollte in seinem Leben. Dann riss er sich aus seinen Tagträumen. Er musste sich konzentrieren.

      „Ein Sohn?“, flüsterte er, als erwartete er von den Pflanzen rings um sich eine Antwort. Es blieb weiter still. Beim Anblick der wild wuchernden Oleanderbüsche reifte langsam in ihm ein Plan. Zufriedenheit machte sich auf seinem Gesicht breit.

      Mit einer ruckartigen Bewegung hob er die Hand und rieb sich die Benommenheit aus den Augen. Wie es seine Art war, faltete er den Brief sorgfältig wieder zusammen, falzte ihn sogar mit einem Fingernagel. Dann war er aufgestanden und hatte die schattige Laube über den Steinplattenweg verlassen.

      Ein unerwartetes Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Virginie steckte ihren Kopf in das Arbeitszimmer.

      „Monsieur Charles, Ihr Freund Alexandre ist soeben eingetroffen.“

      „Danke, Virginie, ich komme sofort“, antwortete Charles seufzend. Wie lästig. Ausgerechnet Alexandre, der Schwätzer, hatte sich für heute angesagt. Es war Samstag, und so würde seine lieb gewonnene, anregende Arbeit mit Julia ausfallen. Aber die Gute war so fleißig und hatte sich ihr Wochenende redlich verdient. Er war mehr als zufrieden mit seinem Gespür. Julia einzustellen hatte sich als ausgesprochenen Glücksgriff erwiesen. Nicht nur für seine Memoiren. Ihre freundliche Art und ihre unaufdringliche Anwesenheit erfüllte das gesamte Haus mit Licht.

      Charles atmete tief aus und wandte sich endlich vom Fenster ab. Da hörte er bereits Alexandres unverwechselbaren Bass durch den Flur schallen.

      „Der alte Schwerenöter lässt mich doch wohl nicht absichtlich warten und hat ein Stelldichein?“

      Charles verdrehte genervt die Augen, als die verzweifelte Virginie wieder im Türrahmen erschien und gerade noch entschuldigend die Achseln hob, bevor sie von dem massigen Alexandre zart, aber bestimmt zur Seite geschoben wurde. Geduld und gutes Benehmen waren noch nie Alexandres Stärke gewesen. Mit einem beschwichtigenden Blick zu Virginie legte Charles rasch den Brief auf seinem Schreibtisch ab und humpelte seinem alten Freund entgegen.

      „Alexandre, du musst nicht immer von dir auf andere schließen. Lass das bloß nicht Inès hören!“

      Lachend klopfte Alexandre seine kräftige Hand auf Charles’ Schulter. „Die gute Inès weiß doch ohnehin, dass du kein Kostverächter bist.“

      Langsam wurde es Charles zu bunt. Vor allem wollte er diese Gespräche nicht vor den Angestellten austragen. Geschickt wechselte er das Thema.

      „Kann das sein, dass du zehn Elefanten verputzt hast, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“ Frech kniff er Alexandre in den stattlichen Bauch, der daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach.

      „Papa, hast du ein Aufladekabel?“ Salomé öffnete nach einem raschen Anklopfen die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Das Büro war leer. Im selben Moment hörte sie Alexandres aufdringliche Stimme durchs Haus schallen.

      Salomé verzog ihr Gesicht. Eigentlich mochte sie Alexandre. Er war gutmütig und von berechenbarer Natur. Sie kannte ihn schon, seit sie denken konnte. Aber sie hatte gerade keine Lust auf Small Talk. Sie konnte hören, wie sich die Stimmen langsam Richtung Terrasse entfernten.

      Salomé war gerade auf dem Weg zum Pool gewesen, um mit Julia ein Sonnenbad zu nehmen, als sie bemerkt hatte, dass ihr Handy-Akku leer war. Obwohl sie wusste, es musste sich mindestens ein Dutzend Ladegeräte im Haus befinden, hatte sie verflixterweise keines finden können.

      Als sie gerade wieder die Tür schließen wollte, erblickte sie aus dem Augenwinkel ein Kabel auf dem Schreibtisch, das eindeutig zu einem Ladegerät gehörte. Rasch durchmaß sie das Zimmer und nahm das Kabel an sich. Während sie noch damit beschäftigt war, den Stecker in die Buchse ihres Handys zu schieben, blieb ihr Blick an einem Schreiben hängen, das offen auf dem Tisch lag.

      Salomé war nicht der Typ, der in fremden Sachen schnüffelte. Sie hatte es ihre ganze Studienzeit über, die sie sich Zimmer in Wohnheimen geteilt hatte, geschafft, diese Maxime für sich durchzuhalten. Sie hatte es auch heute nicht vor. Schließlich ging es sie überhaupt nichts an, welche Briefe ihr Vater erhielt. Der rasche Blick hatte allerdings zwei Worte in ihre Netzhaut gebrannt.

      „Mein Charles“, stand dort als Anrede. Unbewusst begann es, in Salomé zu rattern. Wer, wenn nicht Inès, würde ihren Vater „Mein Charles“ nennen. Aber das war eindeutig nicht die Handschrift ihrer Mutter. Vielleicht ein guter männlicher Freund?

      Salomés Neugier war letztlich stärker als ihre Willenskraft. Sie musste diesen Brief lesen. Es war wie ein Sog. Schließlich war es besser, Verdächtigungen gleich auszuräumen, als sich über Halbinformationen den Kopf zu zerbrechen und ihrem Vater vielleicht Unrecht zu tun. Oder etwa nicht? Salomé blickte sich dennoch rasch um und sah zur Tür. Weit entfernt vernahm sie die gedämpften Stimmen ihres Vaters und Alexandres. Nach einem klärenden Räuspern hob sie den Brief langsam auf und las:

       Suzanne Fontaine

       Hôpital Saint-Joseph

       6 Boulevard de Louvain

       13285 Marseille

       Charles de Bertrand

       Mirabel

       8, Chemin des Gorges

       06190 Roquebrune-Cap Martin

       Mein Charles,

       wie unwirklich das für dich klingen mag. Aber es stimmt: Du warst immer mein. Selbst, als du mit ihr gegangen bist. Ich habe nie wieder jemanden so geliebt wie dich!

       Ich habe dein Leben aus der Ferne mitbekommen, und es scheint dir gut zu gehen. Dann war deine Entscheidung damals richtig, und all deine Träume und Vorstellungen, wie dein Leben zu sein hat, sind in Erfüllung gegangen.

       Vielleicht war es nicht richtig, dich die ganzen Jahre nicht mit meiner Sehnsucht nach dir zu belasten. Wie oft habe ich mich gefragt, ob ich mich damals zu schnell zurückgezogen habe. Aber im Grunde wusste ich, dass deine Entscheidung für dich das Glück bringen würde. Und da ich dich immer geliebt habe, lag mir an deinem Glück, und ich bereue nichts.

       Meine Stunden sind gezählt. Ich bin sehr krank, und wenn du diesen Brief liest, bin ich bereits gestorben.

       Unsere Liebe von damals ist nicht ohne Folgen geblieben: Wir haben einen Sohn gezeugt, und er heißt Mathieu Charles Fontaine. Er trägt meinen Mädchennamen, aber sein zweiter Vorname ist von dir, ebenso wie seine Augen, sein Charme und seine Intelligenz.

       Aus ihm ist inzwischen ein wunderbarer Mann geworden, und er betreibt ein kleines Unternehmen als Landschaftsarchitekt hier in Roquebrune. Es ist schmerzlich für mich, dass ich sein weiteres Vorankommen nicht mehr miterleben werde. Aber du kannst es, wenn du das möchtest.

       Er ist ein gut aussehender, beliebter Mann. Dennoch habe ich den Eindruck, dass er einsam ist. Er würde es niemals zugeben. Aber ich kenne ihn. Er sucht nach einer Gefährtin, aber er traut es sich nicht zu, sie wirklich zu finden.