Ava Lennart

Mädchenname


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      Julia stöhnte nur. „Vier verlorene Jahre. Vier!“ Sie vergrub kopfschüttelnd ihr Gesicht in den Händen. „Kannst du dir vorstellen, dass wir sogar eine Weile lang erfolglos versucht haben, ein Kind zu zeugen?“

      Stella schaute erstaunt zu ihr hin. „Aber ich dachte, ihr hättet das Thema fallen gelassen? Ihr seid doch noch nicht mal verheiratet gewesen.“ Im selben Moment, in dem sie diese naiven Worte ausgesprochen hatte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf, schließlich war sie auch schwanger geworden, bevor sie Steven geheiratet hatte.

      Wenigstens führte diese Aktion bei Julia zu einer kurzen Erheiterung. „Ich weiß, warum du das fragst. Weil man bei einem Typen wie Marcus einfach erwartet, dass die Eheschließung vor der Zeugung erfolgt. Ganz traditionell.“

      Stella nickte, während Julia verbittert aus dem Fenster in den trüben Nebel starrte und an ihrer Unterlippe nagte. „Er hat doch tatsächlich gesagt, er wollte erst mal sehen, ob ich überhaupt fruchtbar bin, bevor er mir seinen Namen gibt“, flüsterte Julia, den Blick immer noch im Nirgendwo.

      Stella konnte sich ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen.

      Julia wandte sich ihr zu, ihren ansonsten schönen Mund zu einer Linie verkniffen. „Es ist alles meine eigene Schuld. Ich habe mir das viel zu lange gefallen lassen. Wer hätte gedacht, dass meine Sehnsucht nach einem Mann in meinem Leben so groß ist, dass ich mich über Jahre so demütigen lasse? Und dann noch von einem solchen Idioten! Aber damit ist jetzt Schluss!“

      Rigoros hatte sie einen Schluck aus ihrem Wasserglas genommen. In diesem Moment hatte der Kellner das Essen gebracht. Wie um ihren neu gewonnenen Aktionismus zu unterstreichen, hatte Julia energisch ihr Spargelrisotto aufgegabelt.

      „Und du hast ihn jetzt abgesägt?“, fragte Stella nach.

      „Genau, nachdem er meine Eier mit vertrockneten Pflaumen verglichen hatte, war meine Schmerzgrenze erreicht.“

      „Wie bitte? Was hat er?“ Stella ließ fassungslos die Gabel sinken.

      Da brach Julia in schallendes Gelächter aus, sodass die älteren Herrschaften am Nachbartisch leicht irritiert herüberblickten. „Ja, stell dir vor! So ein Idiot!“

      Stella freute sich, wie in diesem Moment die alte Julia, die sich zu Zeiten vor Marcus souverän und selbstbewusst durchs Leben bewegt hatte, wieder durchschimmerte. Dann fragte sie kauend: „Und wo wohnst du jetzt? Warum hast du mich nicht früher angerufen?“

      Als sie ihre Freundin in Marcus’ Penthouse in der noblen Zürcher City zum ersten Mal besucht hatte, konnte sie zwischen dem maskulinen Chrom-Stahl-Ambiente außer einem antiken Stuhl, den Julia aus ihrer Altbauwohnung in Köln mitgenommen hatte, keine weiteren Spuren von Julias altem Leben entdecken.

      Julia verzog ihr Gesicht. „Erst war ich eine Woche bei meinen Eltern. Das hat mich allerdings noch mehr Nerven gekostet, weil mein Vater überhaupt nicht verstehen konnte, weshalb ich einen so guten Fang wie Marcus einfach sausen lasse. Ich wollte dich nicht stören, weil ich weiß, du hast grad selbst so viel um die Ohren mit Praxis und Kind.“

      „Spinnst du? Du bist meine beste Freundin! Für dich habe ich immer Zeit und Platz. Insbesondere, wenn du Kummer hast und nicht weißt, wohin.“

      Julia sah Stella nur vielsagend an und holte aus ihrer Handtasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. „Das ist lieb von dir. Ich habe aber eine viel bessere Lösung. In Kürze bin ich weg. Ich verbringe diesen Sommer in Südfrankreich.“ Julia wedelte mit dem Stück Papier vor Stellas Nase herum.

      „Weg? Was meinst du?“

      Julia holte tief Luft. Sie entfaltete das Blatt, und Stella erkannte eine Zeitungsseite, augenscheinlich eine Stellenanzeige. „Ich habe mich auf diese Stelle hier beworben und sie – warum auch immer – bekommen. Ich werde also den Sommer an der Côte d’Azur verbringen.“ Jetzt vergnügt, blitzte Julia Stella an und tippte auf eine Anzeige an exponierter Stelle in eleganter Schrifttype.

      Stella blieb der Mund offen stehen. Sie hatte tausend Fragen. „Und dein Job? Und danach? Was ist das überhaupt für ein Job?“

      Julia neigte sich vor. „Mein Job in Zürich war sowieso furchtbar. Den hätte ich, genau wie Marcus, schon längst schmeißen sollen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es mir gegen den Strich ging, mich nur noch mit Strom und Gas, Kilowatt und Netzbetreibern zu beschäftigen. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Vielleicht heirate ich ja auch einen Millionär?“

      Und dann hatte Julia Stella die geheimnisvolle Stellenanzeige vorgelesen.

      Nachdem sie noch eine Weile in den Möglichkeiten, die ein solcher Sommer für Julia barg, geschwelgt hatten, hielt Stella plötzlich inne.

      „Du weißt aber schon, dass du dir für dieses Abenteuer eine ordentliche Garderobe zulegen musst, oder?“

      „Aber ich habe doch eine ordentliche Garderobe!“

      Stella rollte die Augen. „Ja, klar, du hast deine Anwältinnen-Outfits. Aber das meine ich doch gar nicht.“

      Julia blickte Stella stirnrunzelnd an.

      „Jetzt denk doch mal nach, Julia! Du wirst in Südfrankreich sein. Mit Superreichen. Klingelt es? Cocktailpartys, Yachtausflüge, Golf-Events ...“

      „Oh Gott, du hast recht!“, fiel es Julia offenbar wie Schuppen von den Augen. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Meinst du, ich muss mit den Leuten dann überall hin? Was muss ich mir denn da alles anschaffen …?“ Sie schaute Stella nachdenklich an.

      Um Stellas Mundwinkel spielte bereits ein verschmitztes Lächeln. „Ich glaub, ich hab da bereits eine Idee“, sagte sie und zückte ihr Handy. „Elena kann uns sicher helfen. Sie kennt einige Jetset-Damen. Meine Schwester hat mir mal erzählt, diese Damen hätten ganze Kleiderzimmer. Und ich meine Zimmer und nicht Schränke! Ich ruf Elena mal an.“

      Zwei Tage später traf Julia Elena am Friesenplatz. Elena war Stellas zehn Jahre jüngere Schwester, arbeitete als Model und sah auch an diesem Tag einfach umwerfend aus.

      Das lag nicht nur an ihrer hochgewachsenen Figur, die in der schlichten schmalen Jeans und dem eng anliegenden Oberteil gut zur Geltung kam. Vielmehr hatte Elenas Gesicht eine besondere Ausstrahlung, die schwer in Worte zu fassen war. Alles schien eine Spur zu groß: die Augen, die Lippen, die Nase. Aber in der Komposition harmonierte alles zu einem stimmigen Ganzen, das insbesondere wegen Elenas natürlich melancholischen Blicks besonders anrührte. Der Modelscout, der sie, als sie gerade mal sechzehn war, in einem Drogeriemarkt angesprochen hatte, hatte dies auf den ersten Blick erfasst. Und ihr Erfolg auf internationalen Laufstegen und Hochglanzmagazinen gab ihm recht.

      Julia kannte Elena schon seit deren Geburt. Schließlich hatte sie als Stellas beste Freundin deren Hand gehalten, als Stellas Mutter Katja damals mit Wehen ins Krankenhaus gerauscht war. Dennoch stand sie jedes Mal aufs Neue stumm staunend vor diesem für sie überirdisch schönen Geschöpf.

      Elena hatte vor einem guten Jahr den erfolgreichen Kölner Bar- und Eventmanager Gregor de Jong geheiratet, den besten Freund von Stellas Ehemann Steven. Die Ehe schien sie noch schöner gemacht zu haben, und Elenas inneres Strahlen wärmte Julia an diesem nasskalten Nachmittag. Julia umarmte Elena herzlich.

      „Hab ich Stella richtig verstanden? Du hast deinen Anwaltsberuf an den Nagel gehängt?“, fragte Elena sie als Erstes.

      „Zunächst einmal. Dieser Job an der Côte d’Azur, von dem Stella dir berichtet hat, ist ja nur für diese Saison. Danach habe ich, ehrlich gesagt, überhaupt noch keine Idee, wie es weitergehen soll.“

      „Also ich finde das eine klasse Entscheidung. Und sehr mutig. Komm, wir gehen zu Carmen.“

      Carmen war die Gattin von Elenas Entdecker und langjährigem Agenten Manni. Sowohl Manni als auch Carmen stammten aus schlichten Verhältnissen. Ihr Sinn fürs Geschäftliche und ihr Ehrgeiz hatten beide zu einer festen Größe in der Kölner Mode-