Ava Lennart

Mädchenname


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von Mensch und sehr hilfsbereit.“

      Als Carmen lachend die Tür aufriss und Elena in ihre Arme zog, verstand Julia sofort, was Elena gemeint hatte.

      Julia schätzte sie auf Anfang sechzig, und Carmen tat wohl alles, um ihr Alter zu verleugnen. Ihr Haar war pechschwarz gefärbt und ihr solariumgegerbtes Gesicht stark geschminkt. Sie hatte gegelte Nägel mit Strassapplikationen. Julia meinte zu erkennen, dass die fuchsiarosa geschminkten Lippen verdächtig aufgepumpt waren. Carmens Outfit, das an einer Sechzehnjährigen vermutlich sexy gewirkt hätte, ließ Julia zweifeln, ob Carmen dieselbe ästhetische Wellenlänge haben würde wie sie.

      Als die mit starkem kölschen Akzent sprechende Carmen sie wie eine Tochter in die Arme nahm, war Julia etwas überrumpelt. Freudestrahlend geleitete Carmen sie in ihr „Reich“, wie sie es nannte. Und Julia musste sich eingestehen, dass Stella nicht übertrieben hatte.

      Carmens Ankleidezimmer war größer als Julias Wohnzimmer in der Schweiz. Auffällig waren die Ordnung und das System, mit dem die unzähligen Schuhe, Stiefeletten, Pumps, Sandälchen, Accessoires und Taschen in jeder Farbe auf der linken Seite angeordnet waren. Auf der rechten Seite hingegen fanden sich Reihen an Regalen und Kleiderstangen, die thematisch und farblich geordnete Kleidungsstücke aller Art enthielten. Julia fühlte sich fast erschlagen von der Menge.

      Carmen beobachtete sie lächelnd. „Elena hat mir erzählt, du wirst den Sommer mit Millionären an der Côte d’Azur verbringen? Das ist ja so aufregend! Ich bin sicher, wir finden was für dich“, strahlte sie Julia an.

      Julia musste sich erst räuspern. „Das ist unglaublich freundlich. Mein Budget ist allerdings gerade etwas eingeschränkt ...“

      „Papperlapapp, Mädchen! Du musst doch nichts zahlen! Ich hab so viel Zeug. Das ziehe ich immer nur einmal an, und dann hängt es hier rum. Kann leider nix wegschmeißen. Aber es macht mich glücklich, wenn ich weiß, ein Stück kommt in gute Hände.“

      Und so verging der Nachmittag wie in einer Vorher-Nachher-Show. Carmen und Elena schwirrten um Julia herum und übertrumpften sich gegenseitig mit Vorschlägen, zu welchem Anlass sie welches Outfit tragen sollte. Erstaunlicherweise waren Carmens Vorschläge alle geschmack- und stilvoll. Ein Schielen auf die Labels ließ Julia mehrmals ehrfürchtig innehalten. Konnte sie diese Preziosen wirklich annehmen?

      Carmen winkte nur laut lachend ab. Julia kam sich vor wie Cinderella und konnte ihr Glück kaum fassen, als sie auch noch passenden Modeschmuck und Täschchen verpasst bekam. Idealerweise passten sogar die Schuhe.

      Manni schneite zwischendurch herein und öffnete zur Feier des Anlasses eine Flasche Schampus. Sie hatten sehr viel Spaß, und Julia bedankte sich immer wieder glückselig und überschwänglich bei Carmen und Elena.

      Drei Stunden später stand Julia einen Augenblick ratlos vor dem Kleiderberg, den Carmen ihr geschenkt hatte. Sie wandte sich an die Frau. „Hast du vielleicht ein paar Tüten für mich?“

      Carmen lachte schallend und betrachtete sie dann schmunzelnd. „Tüten, so, so. So jung und so bescheiden.“ Immer noch vor sich hin kichernd, verließ Carmen das Kleiderzimmer und kehrte wenig später mit einem großen Rollkoffer und dem dazu passenden Handköfferchen zurück.

      War das etwa die Marke, von der Julia annahm, sie war es? Sie schluckte aufgeregt. Ging das nicht langsam zu weit? Immerhin war sie eine erwachsene Frau mit einer klassischen Ausbildung. Sie sollte wenigstens die Koffer selbst bezahlen. Dumm nur, dass sie gerade ihren Job geschmissen hatte und nach dem Sommerjob noch keinen Plan hatte, wie es weitergehen sollte. Sie sollte ihr Budget zusammenhalten.

      Carmen sah wohl an Julias Mienenspiel, was gerade in ihr vorging. Beruhigend tätschelte sie Julias Arm. „Spätzelein, nun mal ganz ruhig. Weißt du, wie lange diese Koffer hier schon ungenutzt herumstehen? Fünfzehn Jahre! Ich bin früher viel gereist. Aber jetzt finde ich es zu Hause in Köln eben am schönsten. Außerdem reise ich nicht gerne mit großem Gepäck. Ich kann mir ja vor Ort alles kaufen. Da reicht auch ein kleiner Koffer.“

      Carmen wartete nicht auf Julias Einverständnis und begann, die Klamotten in dem geräumigen Koffer zu verstauen. Als sie fertig waren, mussten sich die beiden Frauen auf den Koffer setzen, um den Reißverschluss festzuzurren. Carmen rieb sich eine Lachträne aus den Augen. „Ach, Kinderlein, ich hatte schon lange nicht mehr solchen Spaß. Danke euch für diesen schönen Nachmittag!“

      Julia kreischte. „Bist du verrückt? Ich habe zu danken“, fiel sie Carmen zum Abschied in die Arme, und auch Elena bekam eine gehörige Portion Dankbarkeit ab.

      Erschöpft, aber zufrieden klingelte Julia wenig später an Stellas Wohnungstür. Stella half ihr, den großen Louis-Vuitton-Koffer in den zweiten Stock zu schleppen. Julia mochte noch gar nicht darüber nachdenken, wie sie dieses schwere Ungetüm alleine nach Frankreich bekam.

      Als sie später im Wohnzimmer vor Stella und Steven die schönsten Kleider vorführte, waren alle begeistert. Und Stella wirkte ganz aufgeregt, als sie erkannte, welche Werte Carmen Julia vermacht hatte. Selbst die erst anderthalbjährige Antonia schnappte sich eine türkis-schillernde Clutch und spielte eine Weile glucksend damit.

      Langsam stieg in Julia die Vorfreude auf den Sommer am Meer. „Jetzt kann es ja losgehen!“, prustete sie und warf sich lachend neben ihre Freundin aufs Sofa.

      JETSET FÜR ANFÄNGER

      Der Taxifahrer setzte Julia weit entfernt vom Hauptterminal am Flughafen Zürich ab. Als sie nun die Privatjets erspähte, wurde sie aufgeregt. Jetzt war es also tatsächlich so weit! Ihre Hand zitterte unmerklich, als sie den Fahrer bezahlte.

      „Muss du ausgerechnet jetzt klemmen?“, schimpfte Julia, denn der Griff ihres großen Rollkoffers bestreikte sie gerade. Und sie hatte nur eine Hand frei, da sie neben ihrer Handtasche auch noch den kleineren Koffer balancieren musste. Wenig elegant und erfolglos zerrte sie am verhakten Koffergriff. Bevor jedoch ein Schaden an ihren frisch manikürten Fingernägeln entstand, entschied sie, dass es auch so gehen musste. Schließlich konnte sie nicht riskieren, dass ihr für die Reise sorgfältig ausgewähltes Business-Outfit sabotiert wurde. Wie von Zauberhand löste sich auf einmal der Griff.

      „Na also, in der Ruhe liegt die Kraft“, murmelte sie. Sie straffte ihre Schultern und begab sich in den eleganten Terminal für die Privatflieger. Kaum hatte sich die Glasschiebetür hinter ihr geschlossen, eilte Stéphane Parsdorf, ein hagerer, sommersprossiger Mittvierziger, freudestrahlend auf sie zu.

      „Da sind Sie ja, meine Liebe. Haben Sie es gut gefunden?“

      Julia schmunzelte, als sie Stéphane begrüßte, und vermeinte ein verschmitztes Zwinkern in seinen Augen zu erkennen. Sie kannte ihn von ihrem Bewerbungsgespräch, das etwa zwei Monate zurücklag.

      Die Agentur, die die Stellenanzeige geschaltet hatte, hatte ihr die Adresse von Charles de Bertrand, dem Inhaber einer der führenden Privatbanken Zürichs, mit der Bitte um äußerste Diskretion übermittelt. Stéphane Parsdorf hatte ihr die eindrucksvolle, mit geschmiedeten Ranken verzierte Tür zu dem Haus geöffnet, in dem sie sich hatte einfinden sollen.

      Da sie glaubte, Charles de Bertrand gegenüberzustehen, begrüßte sie ihn lächelnd und streckte ihm die Hand hin: „Guten Tag, Herr de Bertrand. Julia Sandhagen. Wir haben telefoniert. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

      Ein Hauch von Irritation huschte über das Gesicht des Mannes, bevor er ihr mit einem undurchdringlichen Pokerface, das eine erfolgreiche Saison in Las Vegas versprach, entgegnete: „Herr de Bertrand erwartet Sie, Frau Sandhagen. Folgen Sie mir, bitte!“

      Julia schalt sich stumm. Warum hatte sie nicht daran gedacht, dass „High Net Worth Individuals“ auf jeden Fall einen Butler hatten?

      Sie folgte Stéphane durch eine imposante Eingangshalle. Der Boden war mit marmornen Intarsien ausgelegt, und die hohen, mit zarten Wandmalereien geschmückten und von Säulen getragenen Decken muteten eher wie der Petersdom in Rom an als ein Zürcher Haus. Dennoch wirkte nichts überladen, sondern