Katja Pelzer

Wie schaffen das die Schwäne?


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Endlich fühlt sie mal wieder etwas. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Durch ihr Inneres vibriert ein Zittern. Sie erwartet sekündlich, dass ein Verkäufer oder eine Verkäuferin sie anspricht oder auf die Schulter tippt.

      Doch nichts geschieht.

      Schließlich stellt sich Hannah in die längste Kassenschlange. Sie legt ihre Einkäufe aufs Band. Eins nach dem anderen. Ganz in Ruhe. Sie lächelt die Kassiererin freundlich an und sagt „Guten Abend“.

      Nachdem sie bezahlt hat, sagt sie wieder mit einem Lächeln „Auf Wiedersehen!“. Wie einfach es ist so zu tun, als wenn nichts wäre, denkt sie. Sie freut sich. Hält sich plötzlich für eine gute Schauspielerin.

      Mit der vollen Tasche geht sie zur Bahnhaltestelle.

      Sie muss nicht lange warten, die Bahn kommt beinahe sofort.

      Hannah steigt ein. Wieder hämmert das Herz gegen ihren Brustkorb.

      Sie hat kein Ticket entwertet und eh keins gekauft. Sie fährt schwarz.

      In der Bahn holt sie die Mannerwaffel aus ihrer Rocktasche. Sie löst den Verschluss und bricht die ersten beiden Waffeln ab. Sie beißt in eine hinein. Sie ist knusprig und nussig und schmeckt ihr so gut, wie noch nie.

      Es ist ein gutes Gefühl über die eigenen Grenzen zu gehen, sich zu spüren.

      Bevor der Kontrolleur kommt, muss Hannah schon wieder aussteigen.

      Hannah geht jeden Schritt ganz bewusst. Sie empfindet ihren ganzen Körper dabei intensiv, während sie das letzte Stück nach Hause läuft. Sie ist dabei immer noch total aufgeregt, als schaute sie einen spannenden Film. Nur dass sie in diesem Film die Hauptrolle spielt. Sie bestimmt die Action.

      Verdammt, wann hat sie sich das letzte Mal so lebendig gefühlt?

      Sie kann sich nicht erinnern.

      Patrick

      Britt hat ihm ein unwiderstehliches Angebot gemacht.

      „Lass uns übers Wochenende nach Arnheim fahren. Ein Friedenspfeifchen rauchen“, hat sie gesagt.

      Dazu kann er nicht nein sagen.

      Auch wenn Anouk in ihm herumspukt. Er hat sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie sind sich noch nicht mal zufällig über den Weg gelaufen. Auch nicht in der Schule. Sie haben nicht die gleichen Kurse.

      Aber solange Britt nicht stresst, ist sie ja auch megasüß. Mit diesem Angebot jedenfalls ist sie nicht zu toppen.

      „Das geht klar!“ sagt er. „Ich muss nicht mal auf Lena aufpassen. Die ist in Bayreuth auf Klassenfahrt. Dann haben unsere bekloppten Eltern eben mal sturmfreie Bude.“

      Britt gibt ihm einen Kuss auf den Mund. „Ich mach das Auto klar“, sagt sie dann.

      Britt hat ihren Führerschein letztes Jahr in den USA gemacht. Dort hat sie ein Auslandsjahr verbracht. Überhaupt kriegt Britt alles, was sie will. Ihre Mutter arbeitet nicht und ist von morgens bis abends für sie da. Kein Wunder ist Britt manchmal etwas fordernd. Aber das ist jetzt mal nebensächlich. Er freut sich auf die Zeit mit ihr.

      Da geht was, er ist sich ganz sicher. Also gibt er ihr, was sie will.

      Hannah

      Hannah zieht das geblümte Seidenkleid über ihren Kopf. Das, in dem ihre beste Freundin Astrid sie besonders weiblich findet. Ein Blick in den Spiegel bestätigt ihr das. Der zarte Stoff schmiegt sich um ihre Taille und bringt den Ansatz ihres wohlgeformten Busens, der durch den BH hochgedrückt wird, gut zur Geltung.

      Hannah lässt ihr Parfum von oben wie eine Dusche über ihre Haare und in ihren Ausschnitt rieseln.

      Philipp hat sie gesagt, dass sie ausgeht, aber nicht mit wem. Sie will ihn nicht quälen, doch es wird Zeit, alte Geschichten aufzuwärmen und etwas für ihr Ego zu tun.

      Sie weiß noch ganz genau, was sie damals an Oliver hatte. Sie weiß, was sie damals an ihm vermisste. Aber da sie gegenwärtig so ziemlich alles vermisst, mag Oliver genau der Richtige sein, dieses Defizit zu füllen.

      Sie sind in einem Biergarten verabredet.

      Bei Tageslicht sind Makel nicht zu übersehen und sie läuft nicht so leicht Gefahr in eine Falle zu tappen, aus der sie sich anschließend reumütig befreien muss.

      Die meisten der schmalen gelben Bierbänke an den schmalen gelben Biertischen sind leer.

      Jetzt am Nachmittag ist noch nicht viel los.

      Sie sieht ihn sofort.

      Er sitzt allein auf einer Bank. Er wirkt kleiner als früher. Er scheint versunken, in sich, vielleicht nervös.

      Jetzt sieht er auf. Ihr Herz hüpft kurz ein paar Etagen höher kommt dann aber wieder an seiner gewohnten Stelle zu liegen und findet in seinen normalen Rhythmus zurück.

      Hannah winkt.

      Albern, denkt sie im nächsten Moment – wie ein kleines Mädchen. Sie senkt die Hand abrupt.

      Oliver steht auf und sie drückt ihm Küsse auf jede Wange. Sie wäre ihm auch um den Hals gefallen, aber er scheint sich zu sträuben. Das spürt sie so. Und weicht zurück.

      „Hallo“, sagt sie, nach den Wangenküssen.

      „Hallo“, antwortet Oliver.

      Er riecht genau wie früher. Etwas herb und nach Waschmittel. Eine unwiderstehliche Mischung, findet sie immer noch.

      Sie holt Apfelschorle für sich und für ihn auch, weil seine schon fast leer ist.

      Oliver ist zu Besuch bei seinen Eltern. Eigentlich lebt er längst in einer anderen Stadt. Hannah und er haben sich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen.

      Das letzte Mal waren sie und Philipp noch ein Paar. Und es war ein Paar-Treffen gewesen. Denn Oliver war damals auch noch mit seiner Frau zusammen.

      Er ist mittlerweile geschieden.

      „So schnell kann’s gehen“, sagt er und guckt wie ein Hund.

      Sie nickt.

      Sie sitzen sich jetzt still gegenüber und Oliver schaut sie forschend an.

      Ob er findet, dass sie gealtert ist? Ob er sie noch hübsch findet?

      „Wie geht es dir?“, fragt Oliver und Hannah antwortet „Gut“. Obwohl sie in diesem Moment nicht mehr so sicher ist, dass es stimmt.

      Sie fragt ihn, wie es ihm geht und er sagt „Auch gut“.

      „Schade ist das natürlich immer, wenn eine Beziehung in die Brüche geht“, setzt er hinzu. „Keine Ahnung, wie die Schwäne das schaffen.“ Er lacht.

      Hannah lacht auch. „Man sollte sie mal fragen!“

      „Ja“, er lacht wieder. „Eine lustige Vorstellung. Eine Art Schwanentherapie.“

      Hannah stellt sich das vor. Sie kichert.

      „Für mich ist das mit der Trennung nicht schlimm“, sagt Oliver. Meine Ex sieht das anscheinend genauso. Die Kinder haben zuerst schon gelitten.“

      Hannah nickt: „Am Ende leiden immer nur die Kinder darunter“, sagt sie. Und weiß, dass es nicht stimmt. Das sagt sie aber Oliver nicht. Sie fürchtet, sonst irgendwie bedürftig zu wirken und ihn dadurch abzuschrecken. Denn sie will ihn unbedingt küssen. Unbedingt. Das Küssen fehlt ihr noch viel mehr, als das Fummeln oder richtiger Sex.

      Neben dem Küssen fehlt ihr außerdem dieses aufgeregte Kribbeln, das vom Verliebt-sein kommt.

      Sie seufzt, nicht nur innerlich und Oliver fragt noch einmal, „Wie geht es dir?“

      Sie sagt noch einmal „Gut“.

      Er lächelt. Sein Lächeln ist echt schön. Noch immer.