Katja Pelzer

Wie schaffen das die Schwäne?


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Abwesenheit von etwas Abstraktem, das schwer zu benennen ist und doch fällt seine Abwesenheit auf.

      Es hat eine Zeit gegeben, in der Hannah das Gefühl hatte, ihr fehlte die Luft zum Atmen, wenn sie Philipp auch nur einen Tag nicht sehen würde.

      Und jetzt?

      Ist sie erleichtert, wenn sie ihn mal einen Tag nicht sehen muss.

      Jetzt ist sie die Erste, die aus dem Haus geht.

      Philipp macht dann für die Kinder und sich selbst Frühstück. Ach was, Frühstück.

      Er kocht sich einen Kaffee und den Kids stellt er Cornflakes, Zucker und Milch hin.

      Lena und Patrick sind auf demselben Gymnasium und gehen gemeinsam los.

      Etwas später ist es dann auch Zeit für Philipp. Er arbeitet, seit ewigen Zeiten in einem Architektur- und Immobilienbüro. Wenn er die Wohnung verlässt, hat Hannah bereits den zweiten Kaffee gekocht für ihren Chef.

      Hannah passt dieses neue Leben noch nicht so recht. Wie ein Kleidungsstück, in das sie erst hineinwachsen muss. Noch ist ihr das alles eine Nummer zu groß. Aber das wird schon werden.

      Sie muss sich einfach nur daran gewöhnen. An dieses neue Leben.

      Das sagt sie sich täglich und dann ist sie erst einmal beruhigt.

      Bis zum nächsten Zweifel.

      Enno

      Es klingelt an der Tür.

      Enno ruft „Gila“.

      Gila antwortet nicht.

      Notgedrungen hievt er sich mit aller Kraft aus seinem Wohnzimmerohrensessel. Hier sitzt er am liebsten seit er pensioniert ist. Er war mal Schuldirektor. Von ganzem Herzen. Gila war eine seiner Lehrerinnen. Eine verdammt gute. Überhaupt hat er Glück gehabt mit seiner Gila. Eine schöne Frau ist sie. Immer noch. Als junges Mädchen hat sie ihm komplett den Kopf verdreht. Es hat ihn heftig erwischt. Diese Zöpfe, diese Taille, dieser Gang wie eine Samba. Da war er eigentlich schon so gut wie verlobt gewesen mit einer anderen.

      „Ich bring mich um!“, hat die gedroht, als er ihr den Laufpass gab.

      Aber mit emotionaler Erpressung darf man Enno nicht kommen. Mit so etwas hat er nichts am Hut. Er ist bis heute sicher, sie wollte ihn nur erpressen und auf sich aufmerksam machen.

      Menschen, die ihrem Leben wirklich ein Ende setzen wollen, tun es ohne Warnschuss.

      Dass seine beinahe Verlobte bis heute in scheinbar zufriedener Ehe mit einem Anderen lebt, bestärkt ihn diesbezüglich.

      Enno und Gila hängen sehr aneinander und respektieren einander.

      „Das ist wichtig“, hat er seinen Töchtern beigebracht „Und die gute Kommunikation.“ Diese drei Grundzutaten sind für Enno das Geheimnis einer glücklichen Ehe.

      Auch Gila ist längst pensioniert. Drei Jahre nach Enno war es soweit.

      Enno, anders als Gila, ist nicht mehr so schnell wie früher, aber immer noch gut zu Fuß. Er eilt den Flur entlang und schaut in alle Zimmer.

      Sein Kopf ist in letzter Zeit etwas komisch. Aber das ist wohl normal in dem Alter. Da macht er sich nicht so einen Kopf drüber und muss über die Formulierung beinahe lachen.

      Aber wo ist jetzt Gila wieder hin?

      Dann sieht er den Zettel, der auf dem Küchentisch liegt: „Falls Du es schon vergessen hast: Ich bin einkaufen. Kuss Gila“. Den Kuss hat sie mit Lippenstift auf den Zettel gedrückt. Das macht sie jetzt immer so.

      Da fällt es ihm wieder ein, dass sie einkaufen gehen wollte.

      Er gelangt schließlich reichlich zeitversetzt, an die Wohnungstür.

      Davor steht ein Mann, der freudestrahlend „Guten Tag, Herr Gerstner“ sagt.

      Als Enno ihn nicht ebenso freundlich zurück grüßt und ihn tatsächlich nicht einmal erkennt, erklärt ihm der gänzlich fremde Mann: „Ich bin Herr Ernst, Ihr Nachbar aus der ersten Etage.“

      Gila und Enno wohnen in der zweiten Etage.

      „Guten Tag, Herr Ernst“, sagt Enno.

      „Ich ziehe gerade um“, sagt Herr Ernst. Er redet sehr schnell und Enno muss sich Mühe geben, dem hektischen jungen Mann zu folgen.

      „Ich habe einen Kühlschrank und eine Waschmaschine zu viel“, sagt Herr Ernst und Enno weiß nicht so genau, was das mit ihm zu tun hat. Er findet es nur mäßig interessant, aber er bringt alle erdenkliche Geduld auf und hört weiter zu.

      „Ich ziehe nämlich mit meiner Freundin zusammen“, erfährt nun Enno. „Mein Nachmieter zieht auch mit seiner Freundin zusammen. Und wir haben alle schon eine Waschmaschine und einen Kühlschrank.“

      Enno nickt und versteht nicht.

      „Können Sie vielleicht eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gebrauchen?“, fragt Herr Ernst schließlich.

      Enno denkt ein wenig nach und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass wohl jeder Mensch eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gebrauchen kann. Also nickt er wieder.

      Herr Ernst scheint erfreut. „Für zweihundert Euro können Sie beides haben“, sagt er.

      Zweihundert Euro sind ja nun wirklich nicht zu viel für eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, findet Enno. Also nickt er noch einmal.

      Er geht in sein Schlafzimmer und holt zweihundert Euro aus der Schublade, in der er seine Wertsachen aufbewahrt.

      Die zweihundert Euro zählt er dann Herrn Ernst mit großer Geste in die Hand. Es muss schließlich alles seine Richtigkeit haben.

      „Danke sehr“, sagt Herr Ernst.

      „Danke auch“, antwortet Enno nun freundlicher.

      Herr Ernst lässt beide Geräte von den Umzugshelfern der Spedition nach oben zu Enno und Gila tragen und die beiden Helfer stellen Waschmaschine und Kühlschrank im Flur ab. Enno weiß gerade nicht, wohin damit.

      Sie haben ja bereits eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, wie ihm jetzt auffällt. Und beide Geräte stehen in der Küche und zwar so, dass die Küche ziemlich gut gefüllt ist. Dort passen also die Waschmaschine und der Kühlschrank von Herrn Ernst nicht hin. Das macht Enno nachdenklich und ein wenig müde. Kurz setzt er sich daher an den Küchentisch und denkt nach. Eine Antwort findet er nicht. Aber das eilt ja auch nicht. Gila wird schon wissen, was zu tun ist.

      Irgendwie wird es ihm jetzt dann aber zu eng und zu still in der Wohnung.

      Besser, er geht mal an die frische Luft, dann vergeht vielleicht auch die Müdigkeit wieder.

      Gila

      Kalt greift die Furcht nach Gilas Eingeweiden.

      Als sie vom Einkaufen nach Hause kommt, steht die Wohnungstür offen. Nicht Ich-bringe-mal-eben-den-Müll-raus offen. Nein, sperrangelweit offen. Räumt-mir-gerne-die Wohnung-aus-sperrangelweit offen.

      „Enno?“, ihre Frage schallt mit drei Frage- und drei Ausrufezeichen durch den Eingangsflur.

      Doch es kommt keine Antwort.

      Stattdessen versperren ein Kühlschrank und eine Waschmaschine den Eingangsbereich.

      Nicht ihre, das sieht sie auf den ersten Blick.

      Gilas Herz setzt einen Schlag aus.

      Sie geht durch die Wohnung. Von einem Ende zum anderen. Aber außer einer großartigen Unordnung in seinem Zimmer, findet Gila keine Spur von Enno.

      Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen, denkt sie.

      Es ist eher ein Reflex als eine rationale Handlung, als sie die Telefonnummer ihrer Tochter