Katja Pelzer

Wie schaffen das die Schwäne?


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ist es doch echt bescheuert. Nichts Halbes und nichts Ganzes“, das hat er auch noch gesagt.

      Patrick ist halt Schulsprecher. Er ist lösungsorientiert und pragmatisch veranlagt. Rational.

      Das kann Lena nur teilweise nachvollziehen.

      „Ich finde es eigentlich ganz schön, dass wir alle zusammenbleiben. Ich mag es natürlich auch nicht, wenn Mama und Papa streiten. Klar ist es schöner, wenn es zu Hause friedlich und harmonisch ist und Mama und Papa sich lieben und zusammenhalten, so wie sie sich das mal versprochen haben, als sie geheiratet haben. In guten wie in schlechten Zeiten halt.“

      Patrick nennt das „Blütenträume“. Und das nimmt Lena ihm schon übel. Sie ist ja nicht doof und auch kein kleines Kind mehr.

      Aber egal.

      Sie mag ihn trotzdem, ihren großen Bruder. Sie ist stolz auf ihn. Auch weil er Schulsprecher ist. Alle ihre Freundinnen sind in ihn verknallt:

      „Er ist so gediegen, voll fame“, hat ihre beste Freundin Matilda mal gesagt.

      Wie albern. Aber na ja, sie versteht es auch.

      Philipp

      Es ist schon länger als sein halbes Leben her, er war fünfzehn – so alt wie seine kleine Lena – da schloss Philipp sich einer Gruppe von Wandervögeln an.

      Er wollte seiner behüteten Kindheit entkommen. Wollte Abenteuer erleben wie Karl Mays Old Shatterhand.

      Auf einer Wanderung entlang eines Flüsschens in Alaska beobachtete er Sockeye Lachse, wie sie im kaum knöcheltiefen glasklaren Wasser gegen die Strömung und große wie kleine Wasserfälle ankämpften um zu ihren Ursprüngen zurückzukehren. Jenen Gewässern, in denen sie einst aus dem Laich geschlüpft waren und wohin sie nun ihrerseits zurückkehrten um sich fortzupflanzen.

      Er spürte die Kraftanstrengung, die sie aufbringen mussten förmlich am eigenen Körper.

      Ihr herzzerreißender Anblick und wie sie sich aufbäumten, das nahm ihn mit. Es war ihm als stellten diese kämpfenden und teilweise springenden Fische eine Allegorie auf die Härten des Lebens dar.

      „Nicht jeder von ihnen erreicht auch das Laichgewässer“, erklärte ihnen ihr Wandervogelanführer.

      Im Eifer des Gefechts lösten sich bei einigen Fischen rote Hautfetzen, andere wurden immer wieder ganze Stufen zurückgeworfen.

      Wieder andere wurden von Raubvögeln oder Bären verschlungen, denen sie förmlich in den Schnabel oder ins Maul sprangen.

      Beim Anblick der tapferen Wasserwesen beschloss Philipp alles Erdenkliche zu tun damit weder er noch seine Nachkommen es jemals so schwer haben würden.

      Er schwor sich Leichtigkeit.

      Um diese zu erreichen und zu unterstreichen, lernte Philipp, sobald er wieder zu Hause in Deutschland war, die Kunst des Faltens von Papierflugzeugen.

      In kürzester Zeit konnte er sämtliche Typen falten.

      Mit jedem Falz und jedem erfolgreichen Flugmanöver wurde er optimistischer und wähnte sich seinem Ziel näher.

      Die Verwunderung seiner Eltern schüttelte er ab.

      Patrick

      Seit Patrick denken kann, ist sein Vater für ihn da gewesen.

      Er hat ihm Geschichten vorgelesen. Mit ihm Fußball und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt und er wusste immer auf alles eine gute Antwort.

      Aber am glücklichsten war Patrick, wenn sein Vater mit ihm Papierflugzeuge bastelte. Sie flogen so toll und weit und waren so lange haltbar, dass die Freunde, die Patrick besuchten, es oft auch lernen wollten.

      Patrick war so stolz gewesen, in diesen Augenblicken. Ihm war dann bewusster denn je, dass sein Vater cool war. Cooler als all’ die anderen Väter.

      Doch seit ein paar Monaten hat sich Patricks Meinung gegenüber seinem Vater gewandelt.

      Er hat plötzlich nicht mehr das Gefühl, als hätte Philipp auf alles eine Antwort.

      Im Grunde kommt es ihm so vor, als wüsste sein Vater nicht einmal besser über das Leben Bescheid als er, Patrick.

      Philipp ist genauso fehlbar und ratlos wie alle Menschen. Ihm fehlen die Antworten, von denen Patrick immer geglaubt hat, das sein Vater sie hätte.

      Diese Erkenntnis schockiert ihn und lässt ihn verunsichert zurück. Im Innersten erschüttert.

      Hannah

      Die Porridge-Schüssel kann sie noch nach der Arbeit spülen. Die Kaffeetasse auch. Zum wiederholten Mal fragt Hannah sich, warum sie ihren Lippenstift aufträgt bevor sie ihren Kaffee trinkt. Jetzt ist da wieder dieser rote Abdruck an der Tasse.

      Sie seufzt genervt.

      Das Geschirr von gestern Abend steht auch noch herum. Aber sie kann sich jetzt nicht darum kümmern, sie muss los.

      Es ist ihr auch einfach nicht mehr so wichtig, was Philipp von ihr denkt. Ob er findet, dass sie die Wohnung gut in Ordnung hält oder dass sie lecker kocht. Früher hat sie sich immer über sein Lob gefreut.

      „Das sieht hier ja wieder picobello aus“, hat er oft gesagt und sie mit anerkennendem Blick auf die Schläfe geküsst.

      Solche Gesten gibt es nicht mehr und auch das picobello ist bedeutungslos geworden.

      Sie fragt sich vielmehr, woher sie die ganze Zeit die Energie genommen hat. Bei ihnen sah es ja beinahe aus wie in Architektur und Wohnen. Das Wohnen ist dabei immer etwas auf der Strecke geblieben, zugunsten der Unberührtheit von Design und Architektur. Vorzeigbar, aber nicht gelebt. Picobello eben.

      Dabei haben die Kinder früher natürlich auch für Chaos gesorgt. Aber sobald sie in der Kita, in der Schule oder im Bett waren, hat Hannah aufgeräumt und alle Spuren kindlicher Spielerei verwischt.

      Sie hofft, dass Lena und Patrick jetzt keinen Knacks bekommen. Unzählige Kinder sind ja heute verhaltensauffällig. Hannah wünscht sich, dass die beiden dennoch einmal gerne auf ihre Kindheit zurückblicken werden. Trotz aller Hürden, die Philipp und sie ihnen nun unfreiwillig in den Lebensweg stellen.

      „Unser Arrangement gewährleistet ein weitgehend unverändertes, ungestörtes Familienleben, das sich nicht wesentlich von dem anderer Familien unterscheidet, in denen die Eltern noch zusammen sind!“ So sieht Philipp es. Und vielleicht hat er ja Recht damit.

      Wie sind Patrick und Lena nur so schnell groß geworden?

      Bald schon werden sie eigene Wege gehen, ihre Eltern nicht mehr brauchen.

      Ihre Lebensaufgabe wird dann erfüllt sein.

      Manchmal wird Hannah ganz wehmütig.

      Mit einem Mal dräut die Zukunft wie ein düsteres Endzeit-Szenario.

      Sie ist so gerne Mutter. Sie sieht nicht, wie diese Aufgabe jemals durch etwas Anderes ersetzt werden könnte.

      Nicht in diesem Leben.

      Nachdem sie im Büro einen Text ihres Chefs transkribiert und Emails beantwortet hat, zieht sie den Brief von Lenas Klassenlehrerin aus seinem Umschlag.

      So eine von den hysterischen ist diese Lehrerin und Hannah seufzt.

      „Alles okay“, fragt die Kollegin aus der Buchhaltung, die ihr an ihrem Schreibtisch gegenübersitzt.

      Hannah nickt und lächelt ihr zu. „Lehrerinnen“, sagt sie und verdreht in gespielter Verzweiflung die Augen.

      Die Kollegin nickt und lächelt verständnisvoll, ihre Kinder sind längst erwachsen.

      „Warum kann Lenas Klasse nicht auch an die Nordsee fahren wie die achten Klassen? Muss es denn