Zugegeben, von diesem Blickwinkel aus sah er verdammt gut aus, aber das bizarre Licht an den Ständen täuschte garantiert. Ein wenig zweifelte Susi an Angelas Verstand.
Die Waggons erreichten die Auslaufgerade und kamen langsam zum Stillstand. Die beiden Mädchen lösten die Verriegelung, klappten die Stangen nach oben und erhoben sich mit wackeligen Knien.
»Schaden kann es nichts, ihn kennenzulernen. Kommst du mit?«
»Angela auf dem Kriegspfad. Wehe, ein männliches Wesen wagt sich in ihre Nähe«, spöttelte Susi. Dennoch zuckte sie ergeben mit den Schultern. »Meinetwegen. Wenn es unbedingt sein muss.«
»Ist ja schon gut.« Angela, die nur noch den Boy im Sinn hatte, drängelte sich ungestüm zwischen den Fahrgästen hindurch zum Ausgang. Etwas langsamer folgte Susi ihr, sie kannte Angelas Marotte nur zu gut.
Das Opfer ihrer Neugier schlenderte weiter. Sie beeilten sich, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
»Siehst du, was ich sehe?«, flüsterte Susi.
Der Typ blieb hinter einer Frau stehen. Etwas blitzte in seiner Hand. Mit einer flinken Bewegung durchschnitt er den Schulterriemen der Handtasche und riss sie an sich. Mit raschen Schritten eilte er davon.
Die Frau schrie auf, drehte sich überrascht um. »Hilfe, Diebe.« Ein paar Besucher blickten sich neugierig um, doch keiner reagierte. Niemand hatte etwas gesehen.
»Los, hinterher!«, stieß Susi hervor. »Du da entlang, ich hier.«
Zustimmend nickte Angela, dann stürmten die beiden hinter dem Dieb her. Sie nutzten jede sich bietende Lücke in dem Gewimmel menschlicher Leiber.
Der charakteristische Kopf des Kerls tauchte in Susis Gesichtsfeld auf. Die Handtasche drückte er wie eine wertvolle Trophäe an sich.
Eine Gruppe, die falsch, dafür aber sehr laut sang und ihre Flaschen hin und her schwenkte, stand ihr im Weg. Susi drängelte sich hindurch, doch ein Mann hielt sie am Ärmel fest.
»Wohin, schönes Mädchen? Wie wär's mit einem Gläschen?«
»Arschloch.« Sie nutzte die Verblüffung und riss sich los. Vergeblich hielt sie nach dem Dieb Ausschau. Die Sekunden der Ablenkung hatten genügt, um ihn aus den Augen zu verlieren.
Dafür sah sie Angela, die atemlos angerannt kam.
»Nichts, keine Spur. So ein Mist.«
»Ich hatte ihn bis vor ein paar Augenblicken, aber jetzt ist er weg.« Susi deutete nach links, wo es zum Haupteingang ging.
Sie eilten weiter, gaben es aber bald auf. Der Kerl war garantiert inzwischen über alle Berge.
Susi warf einen Blick auf ihre Uhr. »O je, es ist höchste Zeit. Morgen muss ich früh aus den Federn. Ich habe Kai versprochen, ihn beim Einkauf für seine Fete zu begleiten.«
»Ich gehe auch nach Hause, Susi. Hier ist es stinklangweilig.«
»Ach? Jetzt auf einmal? Bis eben fandest du es noch ganz toll. Gab es doch lauter dufte Typen. Doch dieser Hereinfall, der hat dir den Rest gegeben - oder? Außer Muskelprotze und Taschendiebe anzuhimmeln, hast du heute Abend nichts zustande gebracht.«
*
Susi wuchtete einen Arm voll Salatköpfe in den Einkaufswagen und trat zu der Kiste mit saftigen, roten Tomaten. Sorgfältig suchte sie die besten Früchte aus und packte sie in eine Plastiktüte. Aber es war nicht ihr Morgen. Ein leises, reißendes Geräusch belohnte ihre Mühe. Verblüfft blickte sie den Tomaten nach, die aus der geplatzten Tüte auf den Boden fielen und über die Fliesen rollten.
»Verd ... Mist«, schimpfte sie zwischen den Zähnen und machte sich an die Verfolgung. Hastig sammelte sie die Ausreißer wieder ein. Zum Glück waren alle heil geblieben.
»Sag mal, Susi, was machst du da eigentlich?« Kai tauchte neben ihr auf. »Wolltest du mir nicht beim Einkaufen helfen?«
Susi bewunderte die Nähte seiner Schuhe. »Ich beschäftige mich mit dem Ketchup«, erwiderte sie.
»Aus eigener Herstellung, wie ich sehe. Schwesterherz, damit solltest du warten, bis wir zu Hause sind. Noch besser, wir kaufen es fertig in der Flasche. Jedenfalls hat Mutti mir gesagt, es soll mit auf die Liste.« Kai krauste seine Stirn und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Es ist erstaunlich, was sie alles auf dem Zettel notiert hat. Hack, Eier, Kartoffeln, tausenderlei Gemüse, Knabbereien und Getränke.«
»Wundert dich das? Gemessen an dem, was du jeden Tag alleine verputzt, ist es wenig.«
»Wie immer übertreibst du gewaltig.« Kai blickte in den Wagen. »Haben wir alle frischen Sachen? Wir müssen uns ein wenig beeilen, Mutti hat garantiert keine Lust, ewig auf uns zu warten.«
»Ja, wir können weiter.«
Susi nahm den Einkaufswagen und schob ihn zwischen den Regalen entlang. Kai, mit der Liste in der Hand, lud die Sachen in den Drahtkorb.
Susi brauchte nur im gemütlich Tempo hinterher fahren. Da sie diese Aufgabe so sehr fesselte, hatte sie genug Zeit, die Regale mit den Waren und die Kunden des Supermarktes zu mustern.
Ein junger Mann mit schwarzen, streichholzkurzen Haaren, erregte ihre Aufmerksamkeit. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie grübelte und grübelte, versuchte sich zu erinnern. Wie ein Blitz kam die Erkenntnis, wo sie ihn gesehen hatte. Auf dem Jahrmarkt! Der Typ war der Handtaschendieb!
Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich verhalten sollte. Konnte es sein, dass er es war? Die verwirrenden Lichtverhältnisse auf dem Jahrmarkt täuschten. Und falls er tatsächlich der Dieb war, wie sollte sie es beweisen? Garantiert trug er die Handtasche nicht mit sich herum.
Sie folgte ihm durch das Labyrinth des Supermarktes, nutzten Berge aus gestapelten Dosen und Regale als Deckung und tat, als sei sie intensiv mit Einkaufen beschäftigt. Der Typ verhielt sich wie jeder Kunde. Jetzt allerdings näherte er sich einer Kundin mit einer voluminösen Umhängetasche.
Susi stoppte den Wagen und betrachtete die Konserven mit Hundefutter ausführlich. Sie nahm zwei der Dosen und verglich die Angaben. Dabei schielte sie ununterbrochen zu dem dunkelhaarigen Typen. Sollte sie es riskieren und die Frau vor dem Dieb warnen? Sie spannte ihre Muskeln, bereit zum Losspurten. Zwei, drei bange Momente rechnete sie mit dem Schlimmsten. Doch er fragte nur nach den Schreibwaren.
»Susi, wo steckst du?«
Vor lauter Konzentration hatte sie ihren Bruder glatt vergessen. Rasch stellte sie das Hundefutter zurück, wendete den Wagen und steuerte in die Richtung, aus der die Stimme von Kai gekommen war.
»Aber Susi. Ich hetzte durch die Gegend, und du träumst. Wie soll das nur mit dir enden?« Bis zum Scheitel mit Chips, Erdnüssen und Salzstangen beladen, stand Kai vor ihr. Susi half ihm gedankenverloren, die Tüten zu verstauen. Gleichzeitig lauschte sie angestrengt, ob nicht jemand um Hilfe rief.
Kai stupste sie mit dem Ellenbogen in die Seite. »Aufwachen, wir sind nicht in der Schule!«
»Stimmt schon, aber freiwillige, unbezahlte Helfer haben ihre Macken«, belehrte sie ihn. Doch von nun an folgte sie ihm wie ein Schatten.
Den Typen mit den dunklen Haaren entdeckte sie nirgends mehr.
Kurz vor der Kasse hielt Kai an und checkte seine Liste. »Sieht so aus, als hätten wir alles.«
»Es geht auch nichts mehr rein.« Susi deutete auf den Einkaufswagen, an dem sie sich fast zu Tode schob.
»Dann auf zur Kasse. Sicher steht Mutti schon vor dem Eingang und zählt die Sekunden. Los Schwesterlein, Endspurt! Oder bist du von einer plötzlichen Muskellähmung befallen? Komm, lass mich den Wagen schieben.«
Kapitel
»Hilfe, ich falle!«, schrie Susi. Der hohe Stapel an Tellern, den sie trug, schwankte bedrohlich und klapperte dabei laut. Mit der Zunge zwischen den Zähnen kämpfte sie um ihr Gleichgewicht. Sie hatte Glück. Nach ein