Simone Wiechern

Fliegende Teppiche


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dem eingestickt war: »Fünf sind geladen, Zehn sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.« Es schien früher in Deutschland ähnlich gewesen zu sein. Heute kommt das wohl eher selten vor.

      »Womit verdient deine Familie euer täglich Brot?«

      »In unserer Familie sind alle Fischer. Schon seit Generationen. Mein Vater hat ein Boot und meine Brüder gehen fast täglich mit Netzen fischen. Siehst Du die drei Tiefkühltruhen dort?«

      Sie zeigte auf einen aus groben Brettern gezimmerten Unterstand.

      »Die sind randvoll! Oft fahren wir alle zusammen für einige Tage oder manchmal sogar Wochen an fischreiche Plätze und trocknen den gefangenen Fisch. Meine Brüder verkaufen diesen dann an die Beduinen in den Bergen, die sehr selten weder frischen noch getrockneten Fisch bekommen. Meine Mutter und ich übernehmen den Fischverkauf hier im Dorf.«

      Wir gingen zusammen zu den Truhen und stolz zeigte sie mir, was ihre Familie erwirtschaftet hatte. Große und kleine Fische waren in Plastikkisten nach ihrer Art unterteilt und bis zum Deckel gestapelt. Auch einige Oktopusse waren darunter.

      Als die Mutter des Mädchens mir später ein Nachtlager anbot, war ich wieder überrascht, wie weit die Gastfreundschaft der Menschen hier ging. Ich schlug ihr Angebot dreimal aus, das bedeutete, dass ich wirklich zurückwollte. Gerade am Vortag hatte ich mich erkundigt, warum mir immer alles mehrfach angeboten wurde, obwohl ich doch schon dankend abgelehnt hatte. Das wäre bei den Wüstenbewohnern so üblich, wurde mir erklärt. Oft würden Menschen aus Höflichkeit oder Verlegenheit etwas ablehnen, was sie eigentlich doch gern hätten und so blieben ihnen noch zwei weitere Chancen, es sich anders zu überlegen oder ihre Scham zu überwinden. Sehr zutreffend und geschickt gelöst, fand ich.

      Nach etwa einer Woche in Nuweiba erzählte mir ein Israeli im blauen Bus, von einem nahen Ort namens Ras Gitan. Das bedeutete Teufelskopf. Seine Schilderungen des Touristencamps dort klangen jedoch trotz des erschreckenden Namens sehr verlockend und ich entschloss mich mit ihm und einigen anderen israelischen Touristen, am Morgen dahin aufzubrechen.

      In Ras Gitan war ich die einzige Europäerin. Es gab ansonsten nur Beduinen und Israelis und ich dachte schon bei der Ankunft, in die Flower-Power-Zeit zurückversetzt worden zu sein. Die Mädels trugen wallende, bunte Röcke, die Herren indische Wickelhosen und eher selten ein Shirt darüber. Tagsüber malte ich, schrieb oder ging schnorcheln. Abends trafen sich alle im einzigen Café bei einem großen Feuer. Es wurde musiziert, über Gott und die Welt palavert und vor allem viel gelacht. Jeder mochte den anderen. Schon nach ein paar Tagen hatte man das Gefühl, in einer großen Familie zu leben, in der Toleranz, Verständnis und die Liebe zum Leben großgeschrieben wurden. Ich traf dort auf viele Beduinen, die mit mir mein beliebtes Frage-und-Antwort-Spiel spielten. Es machte ihnen sichtlich Freude, dass ich mich so sehr für ihr Leben interessierte. Mehrmals wurde ich mit ins Dorf genommen und bei den Frauen abgesetzt, wo ich mein Spiel weiter treiben konnte.

      Da sich damals noch sehr wenige Touristen nach Ras Gitan verirrten, war das Riff sehr gut erhalten und ich war hellauf begeistert, dass die Vielzahl der Farben und Fische, die ich bisher gesehen hatte, hier noch übertroffen wurde. Eines Nachmittags, als ich am Strand lag und aufs Meer hinaus schaute, sah ich nicht weit vom Riff entfernt eine Gruppe von sechs Delfinen, die munter mit hohen Sprüngen durch das Wasser schossen. Zusammen mit den Farben des nahenden Sonnenuntergangs war der Anblick atemberaubend.

      Beim täglichen Schnorcheln hatte es mir ganz besonders ein kleiner Tintenfisch angetan. Er hatte es sich in einem alten Autoreifen bequem gemacht, der wohl schon Jahre hier im Meer lag. Er war so sehr mit in allen Farben leuchtenden Korallen und Algen zugewachsen, dass man ihn kaum noch als Reifen erkennen konnte. Der Tintenfisch schien nicht im Geringsten Notiz von mir zu nehmen und gab mir die Möglichkeit, ihn ausgiebig zu beobachten. Der deplatzierte Gegenstand war sein Stammplatz, denn wann immer ich zu der Stelle schnorchelte, fand ich ihn in seinem kleinen Reich.

      Die Zeit der Abreise nach Deutschland nahte. Mein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied. Mir wurde immer öfter schwindelig und in Intervallen überkam mich eine leichte Übelkeit. Eine typische Körperreaktion, wenn mir etwas bevorsteht, dem ich gar nicht freundlich gesonnen bin. Tief im Inneren wollte ich wohl nicht mehr weg von hier. Die Abende mit den Beduinen und den Israelis am offenen Feuer waren mir so lieb und vertraut geworden, dass der Gedanke an das graue Alltagsleben in Berlin mir sehr zusetzte. Am Vorabend der Rückreise war ich ein in mich verschlossenes Bündel der Trauer. Ich lag allein vor meiner Hütte, direkt am Strand, auf den wunderschönen sauberen Steinen, und schickte ein Versprechen in den mit Sternen übersäten Himmel: Es wird nicht viel Zeit vergehen und ich komme wieder. In das Land der Stille, der Beduinen und der malerischsten Farben unter und über Wasser.

      Jetzt oder nie

      »Der Ausgangspunkt für die großartigsten Unternehmungen liegt oft in kaum wahrnehmbaren Gelegenheiten.«

      - Demosthenes -

      Wieder zurück in Berlin war es leider eindeutig zu kalt, um auf dem Balkon zu nächtigen. Ich ging so viel wie möglich nach draußen, da ich mich, in meiner doch eigentlich gemütlichen Wohnung, wie eingesperrt fühlte. Wenn ich am Schreibtisch saß, sah ich direkt gegen eine Wand. Selbst auf dem Balkon wurde mir von umstehenden Häusern die Sicht versperrt. Meine Gedanken konnten nicht schweifen, mein Horizont war zu beschränkt. Der einzige Ort, an dem ich mich noch richtig wohlfühlte, war der Park nahe der Uni.

      Dick angezogen saß ich an einem der wenig sonnigen Tage auf einer Bank und öffnete einen Brief von der Freien Universität, den ich am Morgen erhalten hatte. Ich war zusätzlich in Grundschulpädagogik und Politik angenommen worden. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, um sogleich Klaus die freudige Botschaft mitzuteilen. Da wir in Ostberlin immer noch keine eigene Telefonleitung bekommen hatten, ging ich auf dem Rückweg in eine Telefonzelle und rief gut gelaunt meinen Vater an. Bisher hatte ich mein Studium selbst finanziert, aber mit drei Studienfächern war dies nicht mehr möglich. Noch war ich überzeugt, er würde stolz auf mich sein. Nachdem ich ihm von der erfolgreichen Immatrikulation berichtet hatte, kam er recht schnell zu dem mir unangenehmen Thema. Er hatte mir schon meine Ausbildung als Bauzeichnerin finanziert und ich konnte seinen Unmut, jetzt wieder für mich zahlen zu müssen, gut verstehen. Die Summe, die er letztendlich bereit war, mir zu geben, reichte jedoch unmöglich aus, in Berlin zu studieren. In Grundschulpädagogik hätte ich viele Praktika zu absolvieren und währenddessen kaum Zeit zum Arbeiten. Das Arabistik-Studium war sehr schwer und kostete mich viel Zeit am Schreibtisch und in der Bibliothek.

      Ich war zutiefst niedergeschlagen, da ich keine Möglichkeit sah, gewissenhaft zu studieren und gleichzeitig noch ausreichend für meinen Lebensunterhalt aufzukommen. Mein Herzensfach, die Arabistik aufzugeben, war keine annehmbare Alternative für mich. Einen Kredit aufzunehmen jagte mir höllische Angst ein. Bafögberechtigt war ich nicht, und Schulden zu machen war etwas, das mir schlaflose Nächte bereiten würde. Mich von Klaus aushalten zu lassen ebenfalls. Er riet mir, meinen Vater zu verklagen.

      ›Ausgeschlossen!‹, rief das Gewissen, ›das könnte sie nie, dafür ist sie ihrem Vater viel zu dankbar, dass er schon ihre Ausbildung ermöglicht hatte.‹

      Außerdem liebte ich meinen Vater und hätte das allein aus diesem Grund nie tun können.

      Eine Woche überlegte und rechnete ich und kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Ich würde es nicht schaffen. Zumindest traute ich es mir nicht zu. In den kommenden Nächten konnte ich nicht einschlafen und vergoss viele Tränen. Ich ging lustlos zum Frühstück, saß lustlos an der Arbeit und hing lustlos in unserer Wohnung herum. Als ich eines Morgens meine verquollenen Augen im Spiegel sah, traf ich eine Entscheidung, die mein gesamtes bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

      Eine neue Zufriedenheit und Zuversicht war plötzlich in mein Spiegelbild zurückgekehrt. Ich zog mich in Windeseile an und rannte beinahe zur U-Bahn. Am Kurfürstendamm stieg ich aus und stand ein paar Minuten später vor meinem Ziel. Ich atmete tief durch und sah in den sich spiegelnden Scheiben immer noch die mutige Zuversicht in