Lucia Bolsani

Tosh - La Famiglia


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      Kapitel 6

      München, 27. Mai 2019, nachmittags

      Christine und ich verlassen das Gebäude nicht durch das Blue Parrot, sondern durch einen Hintereingang. Direkt vor der Tür befindet sich eine überdachte und an einer Seite von einer Mauer geschützte Auffahrt, sodass man mit Leichtigkeit ungesehen hinein- oder hinausgelangen kann.

      Ein Taxi fährt vor, und meine Chefin schiebt mich auf die Rückbank. Mir ist ein bisschen übel, und ich würde gerne ein paar Schritte gehen, aber ich will auch endlich wissen, was hier los ist.

      »Was war denn das gerade eben …?«, fange ich an, kaum dass das Taxi Fahrt aufgenommen hat.

      »Schhh!«, macht Christine, und dann zischt sie mir leise zu. »Hören Sie, Mayra, Tosh Silvers ist ein gefährlicher Mann. Trotzdem würde sich jede Kanzlei in München alle Finger danach ablecken, auch nur einen kleinen Zeh in die Tür von Alpha Salvage zu bekommen. Also tun Sie mir den Gefallen, erledigen Sie den Job und treten Sie bloß dem Mann nicht noch mal auf die Füße!«

      Hä? Wenn ihr das so wichtig ist, warum betraut sie dann ausgerechnet mich mit dem Mandat? Das macht doch gar keinen Sinn. Aber was meine Chefin angeht, ist das Gespräch damit scheinbar erledigt. Sie zieht ihr Handy heraus und beginnt zu telefonieren.

      Da verstehe ich ihre Taktik plötzlich. Sie rechnet gar nicht damit, dass irgendjemand Herrn Silvers’ Anforderungen genügen könnte. Aber wenn dieser Fall eintritt, hofft sie womöglich, den Mann zu besänftigen, indem sie mich vor die Tür setzt. Auf mich kann sie am ehesten verzichten, und dank dieser Geste bekäme sie dann vielleicht doch ihren kleinen Zeh in die Tür von Alpha Salvage.

      Jetzt ist mir richtig schlecht. Wäre ich der Typ Frau, der leicht in Tränen ausbricht, würde ich wahrscheinlich heulen, aber der bin ich nicht, stattdessen bin ich wütend. Auf Christiane, auf Silvers, eigentlich auf alles und jeden.

      Zurück im Büro muss ich feststellen, dass Annabels Akten wie von Zauberhand verschwunden sind. Da es nicht so aussieht, als würde heute noch jemand anderes mit irgendeiner kuriosen Anfrage bei mir auftauchen, gebe ich Milena Bescheid, dass ich Überstunden abbummeln werde, im Notfall aber zu Hause zu erreichen sei.

      Nur falls mich weitere gefährliche Männer engagieren wollen.

      Inzwischen ist der erste Eindruck, den ich von dieser »Besprechung« hatte, ein wenig verblasst. Christine übertreibt doch, oder? Gut, Silvers hat tatsächlich eine unheimliche Ausstrahlung. Aber ein Großteil davon ist sicher seinen Machtspielchen geschuldet: Er hat uns zu sich zitiert, anstatt in die Kanzlei zu kommen, hat uns dann ewig warten und später nicht ausreden lassen, dazu das Fehlen jeglicher Höflichkeitsfloskeln. Das Machogehabe hat Tosh Silvers wirklich drauf.

      Trotzdem ist Christine offenbar sehr an einer Zusammenarbeit interessiert. Aber was könnte schon passieren, wenn Silvers unzufrieden mit unserer Arbeit ist? Er könnte das Mandat kündigen. Das wäre vielleicht ärgerlich, aber doch nicht gefährlich.

      Ich versuche, ein Szenario zu konstruieren, in dem ich oder die Kanzlei haftbar gemacht werden könnten, komme aber auf nichts, was nicht durch die entsprechenden Versicherungen abgedeckt wäre. Es sei denn, ich würde das Mandantengeheimnis brechen, was ich wirklich nicht vorhabe.

      Wie auch immer, vor dem morgigen Termin will ich unbedingt wissen, mit wem ich es zu tun habe, und die entsprechende Recherche führe ich lieber zu Hause durch.

      Vier Stunden später sitze ich immer noch in meinem Jogginganzug vor meinem Computer und reibe mir stöhnend die Schläfen. Tosh Silvers ist ein verdammtes Phantom, so sieht es aus. Seine Unternehmensberatung hat nicht einmal eine simple Webseite mit Kontaktdaten. Wenn ich dringend eine Beratung bräuchte, käme ich auf alle möglichen Firmen, aber sicher nicht auf Alpha Salvage. Wo kriegen die ihre Kunden her?

      Silvers taucht auch nicht in irgendwelchen Klatschspalten auf, er spendet nicht für ein Kinderhospiz und hat keine aufregende Affäre mit einem Model. Nichts!

      Das Einzige, was meine Recherche hervorgebracht hat, ist ein Handelsregisterauszug, der Tosh Silvers als Geschäftsführer der Firma ausweist, deren Gesellschafter andere Unternehmen sind, und, da Alpha Salvage bilanzierungspflichtig ist, eine ziemlich beeindruckende Aufstellung der Gewinne.

      Mit Insolvenzverschleppung muss ich mich in nächster Zeit eher nicht mehr auseinandersetzen. Aber warum kann ich nicht wenigstens ein Foto von Silvers im Internet finden? Das gibt es doch gar nicht! Jeder taucht doch mit irgendeinem Foto im Netz auf, absolut jeder! Was ich mit dem Foto will, weiß ich selber nicht so genau. Und ich weigere mich auch, länger darüber nachzudenken.

      Überpräsent im Internet ist allerdings Gieseke, Silvers’ möglicher Geschäftspartner. Täglich überschwemmt er die sozialen Medien mit Fotos und Videos seiner Botschaften für eine bessere, gerechtere Welt, und wird dabei nicht müde, sich selbst für sein früheres Verhalten zu geißeln.

      Mir ist er ebenso wenig sympathisch wie Silvers, nur auf ganz andere Art. Dabei meint der Mann es doch nur gut. Wahrscheinlich ist es das schlechte Gewissen, weil ich ja eigentlich weiß, dass der Gieseke recht hat. In der Regel bin ich aber zu faul, um mir nach einem langen Arbeitstag etwas aus regionalen Biozutaten zu kochen, sondern nehme mir einfach eine Salamipizza mit nach Hause.

      Christine hat noch einen Namen erwähnt, aber ich war so bestürzt über die drohende Kündigung, dass der mir völlig entfallen ist. Wieso hat mich meine Chefin eigentlich nicht vorgewarnt, sondern mich direkt ins offene Messer laufen lassen? War das ein Test? Dann stehe ich wahrscheinlich kurz vor dem Durchfallen. Mist!

      Grummelnd fahre ich den Rechner runter. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich mit diesem nervigen Mandanten zu arrangieren. Wenn die Verträge erst unterzeichnet sind, werde ich Silvers, seine Unternehmensberatung und das Blue Parrot hoffentlich nie wieder sehen müssen – diesmal aber für immer!

      Kapitel 7

      München-Giesing, 28. Mai 2019, nachmittags

      Carlo ist Experte, was Manipulation angeht, und er ist ein guter Lehrmeister. Ich habe genug von ihm gelernt, um zu wissen, welch leichtes Spiel er mit dem jungen Tosh hatte, welch leichtes Spiel er immer noch mit mir hat. Was seine Methoden aber nicht weniger wirkungsvoll macht.

      Nach Möglichkeit beginnt man damit, die Hierarchien zu klären. Was mir gestern wohl gelungen ist. Mayra dürfte inzwischen klar sein, wer am längeren Hebel sitzt.

      Punkt zwei, finde etwas über dein Opfer heraus. Was treibt sie an, was will sie erreichen? Wen liebt sie abgöttisch? Was fürchtet sie? Was hat sie getan, von dem niemand je erfahren soll?

      Ich habe Georg angewiesen, tiefer zu graben, und sollte eigentlich mittlerweile in der Lage sein, einige dieser Fragen zu beantworten. Doch bisher hat er höchst widersprüchliche Informationen geliefert. Nach außen hin kann Mayra die perfekte Vita präsentieren: Aus einfachen Verhältnissen stammend hat sie beharrlich ihr Ziel verfolgt und ist nun Anwältin in einer angesehenen Kanzlei in einem sehr lukrativen Bereich der Juristerei.

      So weit, so gut. Eine wohlanständige Anwältin auf dem Weg nach oben. Aber was hat sie geritten, eine Nutte aus einer Gewahrsamszelle herauszuholen? Zumal Georg nicht die geringsten Anzeichen dafür gefunden hat, dass sie jemals zuvor den Drang verspürt hat, einem gefallenen Mädchen aus der Patsche zu helfen. Zudem konnte er auch keine persönliche Verbindung zwischen Mayra und Minnie finden. Wieso sollte sie also ausgerechnet für sie tätig werden?

      Was mir allerdings sehr gefällt, ist, dass Mayra den perfekten Partner für ihr perfektes Leben noch nicht gefunden hat. So ein überkorrekter Spießer würde doch gut passen, der es ihr jeden Samstag unter der Bettdecke besorgt. Stattdessen dieser Account bei LonelyHearts. Ich freue mich schon darauf,