George Sand

Geschichte meines Lebens


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enthüllt, und das dann und wann die erhabensten Bemerkungen über die Gesetzgebungen und das sittliche Leben der Völker enthält.]

      Während Jean Jacques Rousseau bei ihnen lebte, beschäftigte sich Herr und Madame Dupin mit einem Werke über die Verdienste der Frauen. Rousseau half ihnen dabei, indem er Notizen sammelte und eine große Menge Materialien aufhäufte, die noch als Manuscript im Schlosse von Chenonceaux existiren. Dupin's Tod unterbrach die Arbeit und aus Bescheidenheit unterließ seine Frau die Veröffentlichung. Eine kurze, von ihr selbst geschriebene Zusammenstellung ihrer Ansichten, der sie den bescheidenen Titel „Versuche“ gegeben hat, verdiente indessen der Verborgenheit entzogen zu werden — wäre es auch nur, um als Beitrag zur Geschichte der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts zu dienen. Diese liebenswürdige Frau gehörte in die Reihen der guten und schönen Seelen ihrer Zeit und es ist vielleicht zu beklagen, daß sie ihr Leben nicht dazu verwendet hat, das Licht, das sie in ihrem Herzen trug, zu nähren und zu verbreiten.

      Was ihr inmitten der Philosophen jener Zeit ein eigenthümliches Gepräge giebt, ist, daß sie den meisten unter ihnen vorangeeilt ist. Sie ist nicht Rousseau's Jüngerin; sie hat nicht sein Talent; aber er hat nicht die Kraft und den Schwung ihrer Seele. Sie geht von einer kühnern, tiefern Lehre aus, die für das Menschengeschlecht schon alt, für das achtzehnte Jahrhundert aber scheinbar neu war. Sie ist die Freundin, die Schülerin oder die Lehrerin eines Greises, der als Schwärmer galt, der ein unvollständiges Genie war, weil ihm das Talent der Gestaltung fehlte und den ich doch vom Geiste Gottes mehr erfüllt glaube, als Voltaire, Helvetius, Diderot und Rousseau sogar —; ich meine den Abbé von St. Pierre, den man in der Gesellschaft den „berühmten“ Abbé von St. Pierre zu nennen pflegte, eine ironische Bezeichnung, die ihm heut zu Tage geschenkt wird, weil er fast gänzlich unbekannt oder vergessen ist.

      Es giebt einen Genius, der immer unglücklich ist, weil ihm die Fähigkeit des Ausdrucks mangelt; wenn er nicht einen Plato findet, der ihn der Welt verständlich macht, leuchtet er nur wie ein schwacher Blitzstrahl durch die Nacht der Zeiten und er trägt das Geheimniß seines Geistes mit in's Grab — „das Unerkannte seiner Betrachtungen“ — wie Geoffroy Saint-Hilaire, ein Mitglied dieses großen Geschlechts berühmter Stummer oder Stammler, zu sagen pflegte.

      Diese Unfähigkeit, sich mitzutheilen, erscheint wie ein Verhängniß, während Männern von geringer Tragweite der Gedanken und kaltem Gefühle oft die klarste, glücklichste Gestaltungsgabe verliehen ist. Ich kann es wohl begreifen, daß Madame Dupin die Utopien des Abbé von St. Pierre den Lehrsätzen Montesquieu's vorgezogen hat, die von englischem Geist erfüllt sind. Der große Rousseau hatte nicht so viel moralischen Muth oder so viel Geistesfreiheit, als diese großherzige Frau. Als sie ihm auftrug den „Entwurf des ewigen Friedens“ und die „Polysynodie“ des Abbé von St. Pierre zu resümiren, that er es, mit aller Schönheit der Form, die ihm zu Gebote stand; aber er erklärte, daß er es für nöthig gehalten hätte, die kühnsten Vorschläge des Verfassers zu übergehen, und verweist Alle, die den Muth haben, sich damit zu beschäftigen, auf den Urtext.

      Ich muß gestehen, daß mir der Spott, womit J. J. Rousseau die Utopien des Abbé von St. Pierre behandelt, und die Rücksichten, die er auf die Machthaber der Zeit zu nehmen vorgiebt, nicht gefallen. Ueberdies ist seine Verstellung entweder zu fein oder zu ungeschickt; seine Ironie ist entweder nicht deutlich genug und verliert dadurch an Kraft, oder sie ist zu wenig verhüllt und büßt dadurch an Wirksamkeit und Vorsicht ein. Es ist keine Einheit, keine Sicherheit in den Urtheilen Rousseau's über den Philosophen von Chenonceaux. Je nachdem er durch Schicksale, Lebensüberdruß und Verfolgungen mehr oder weniger niedergedrückt ist, stellt er ihn als großen Mann oder als armseligen Menschen dar. Aus gewissen Stellen der Bekenntnisse scheint sogar hervorzugehen, daß er sich schämt, den Abbé von St. Pierre jemals bewundert zu haben, Aber der Mangel an, Talent kann noch nicht zum armseligen Menschen machen. Das Genie strömt aus der Seele, es liegt nicht in der Form. Uebrigens trifft der Hauptvorwurf, den Rousseau, wie alle Kritiker der Zeit, dem Abbé von St. Pierre gemacht hat, das Unpraktische seiner Theorien und den Glauben an die Möglichkeit seiner gesellschaftlichen Reform. Und doch scheint es, als hätte dieser Träumer klarer gesehen, als alle seine Zeitgenossen, und als hätte er den revolutionären, constitutionellen, St.-Simonistischen Ideen — und selbst denen, die man heut zu Tage rein menschliche nennt — weit näher gestanden als sein Zeitgenosse Montesquieu und dessen Nachfolger: Rousseau, Diderot, Voltaire, Helvetius u.s.w.

      Von allen diesen ist in dem umfangreichen Gehirne des Abbé von St. Pierre etwas zu finden, und in dem Chaos seiner Gedanken sind alle die Ideen aufgehäuft und durcheinander geworfen, wovon eine später genügte das Leben eines bedeutenden Mannes auszufüllen. Jedenfalls geht St. Simon von ihm aus; Madame Dupin, seine Schülerin, sowie Herr Dupin in seiner Kritik des Esprit des loi sind entschieden Emancipatoren des Weibes. Die Regierungs-Versuche, die seit hundert Jahren gemacht sind, die bedeutendsten Thaten der europäischen Diplomatie und die Trugbilder fürstlicher Unterhandlungen, die man Bündnisse zu nennen pflegt, haben den Verfassungstheorien des Abbé von St. Pierre einen — freilich trügerischen — Anschein der Weisheit und Sittlichkeit entlehnt, und die Lehre vom ewigen Frieden ist in alle neuern philosophischen Schulen übergegangen.

      Es würde also heut zu Tage sehr lächerlich sein, den Abbé von St. Pierre lächerlich zu finden und ohne Ehrfurcht von dem zu sprechen, der selbst von seinen Feinden der „Biedermann“ genannt wurde. Und hätte er der Nachwelt nur diesen Namen zu hinterlassen, so besäße er mehr darin, als in dem Ruhme, einer der großen Männer seiner Zeit zu sein.

      Madame Dupin von Chenonceaux liebte diesen Biedermann auf das Herzlichste; sie theilte seine Ideen, verschönte sein Alter durch zarte Aufmerksamkeit und empfing in Chenonceaux seinen letzten Seufzer. In dem Zimmer, worin er Gott seine edle Seele zurückgab, habe ich ein Bild von ihm gesehen, das kurz vor seinem Tode gemalt ist. Sein schönes Gesicht, das zugleich streng und sanft ist, hat eine gewisse Aehnlichkeit der Form mit den Zügen Franz Arago's; aber der Ausdruck ist anders — auch liegen die Schatten des Todes schon über diesem großen, schwarzen Auge, das durch Leiden eingesunken ist, und über diesen bleichen Wangen, die das Alter gefurcht hat. [Ich habe mir hier einen Irrthum zu schulden kommen lassen, auf den mich mein Vetter Herr v. Villeneuve, Erbe von Chenonceaux, aufmerksam macht. Der Abbé von St. Pierre ist in Paris gestorben, kurze Zeit nachdem er eine schwere Krankheit in Chenonceaux glücklich überstanden hatte. (Anmerkung von 1850.)]

      Madame Dupin hat in Chenonceaux einige Schriften zurückgelassen, die sehr kurz, aber voll klarer Gedanken und edler Gefühle sind. Es sind größtentheils abgerissene Betrachtungen, die jedoch in sehr logischer Verbindung mit einander stehen. Eine kleine, nur wenige Seiten lange Abhandlung „über das Glück“ halten wir für ein Meisterstück; und um den Grundgedanken verständlich zu machen, wird es genügen, wenn wir die ersten Worte wiederholen: „Alle Menschen haben gleiche Rechte an das Glück“ — oder wörtlich: „Alle Menschen haben gleiche Rechte an die Freude.“ Das Wort Freude darf hier nicht mißverstanden, nicht als der Ausdruck eines Begriffs aus der Zeit der Regentschaft gehalten werden. Sein eigentlicher Sinn ist: materielles Glück, Genuß des Lebens, Wohlbefinden, — Vertheilung der Güter, wie man jetzt sagen würde. Der Titel des Ganzen, der keusche, ernste Sinn, der sich darin ausspricht, lassen keinen Zweifel über den Inhalt dieser Gleichheitsformel, die ganz im Sinne unserer Zeit gebraucht ist, und dem Satze entspricht: „Einem Jeden nach seinen Bedürfnissen.“ Diese Idee scheint mir der Neuzeit angehörig zu sein — so neu, daß sie für das vorsichtige Gehirn unserer meisten Denker und Politiker noch immer zu kühn ist, und daß der berühmte Historiker, Louis Blanc, eines gewissen Muthes bedurft hat, um diese Meinung auszusprechen und zu entwickeln.[Ich schreibe dies im Juli 1847. Wer weiß, ob nicht vor dem Erscheinen dieser Memoiren eine allgemeine gesellschaftliche Umwälzung die Zahl der muthigen Denker um ein Bedeutendes vermehrt haben wird.]

      Madame Dupin, die schöne, liebenswürdige, einfache, starke und ruhige Frau starb in Chenonceaux in ziemlich vorgerücktem Alter. Die Form ihrer Schriften ist ebenso klar wie ihre Seele, ebenso zart, so heiter, so glücklich, wie die Züge ihres Gesichts. Diese Form ist ihr ganz eigen und ihre elegante Correctheit thut ihrer Eigenthümlichkeit keinen Abbruch. Sie schreibt in der Sprache ihrer Zeit, aber sie hat die Wendungen Montaigne's, die Lebendigkeit Bayle's, und man sieht wohl, daß sich die schöne