George Sand

Geschichte meines Lebens


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Wie die Zukunft sich auch gestalten mochte (und zu dieser Zeit sah Niemand, trotz der Siege Bonaparte's in Italien, die Rückkehr des Despotismus voraus), so verdammte doch dieser Knabe die Vergangenheit und sagte sich von ihr los, ohne Rückhalt und ohne irgend welches Bedauern. Er sowohl, wie seine Mutter waren rein von aller geheimen Theilnahme, von aller moralischen Mitschuld an der Wuth der Parteien und der eigennützigen Rachsucht; beide ließen sich wiegen durch die noch zitternden Wellen der letzten Volksbewegungen und erwarteten die Ereignisse, indem sie dieselben mit einer philosophischen Unparteilichkeit beurtheilte, und indem er die Unabhängigkeit des Vaterlandes und die Herrschaft der unvollständigen, aber edeln Theorien der Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts herbeiwünschte. Er sollte bald darauf den letzten Hauch des republikanischen Lebens in der Armee aufsuchen, und da seine Mutter zuweilen vor seinem heftig ausgesprochnen Verlangen erschrak, suchte sie ihn durch die sanften Genüsse der Kunst und den Reiz erlaubter Freuden zu zerstreuen.

      Einige Worte über die Persönlichkeit meines Vaters, ehe ich denselben im Jahre 96 selbstredend einführe: seit 1794 hatte er mit Deschartres viel studirt, hatte jedoch in Hinsicht der classischen Studien nur geringe Fortschritte gemacht. Er war eine Künstlernatur und lernte eigentlich nur durch den Unterricht seiner Mutter. Musik, lebende Sprachen, Deklamation, Zeichnen, Literatur zogen ihn unwiderstehlich an; aber Mathematik und Griechisch flößten ihm gar kein Interesse ein, und das Lateinische ein sehr geringes. Für ihn ging Musik Allem voran und seine Violine war die Gefährtin seines Lebens; er hatte außerdem eine herrliche Stimme und sang ausgezeichnet. Er war ganz Gefühl, Gemüth, Begeisterung, ganz Muth und Vertrauen. Er liebte Alles, was schön war, versenkte sich vollständig darein und kümmerte sich eben so wenig um die Folgen als um die Ursachen desselben. Da er seinem Wesen, vielleicht auch seinen Principien nach weit republikanischer war, als seine Mutter, personifizirte er auf das Bewunderungswürdigste das ritterliche Element der letzten Kriege der Republik und der ersten Kriege des Kaiserreichs; — im Jahre 1796 war er übrigens noch nichts als Künstler.

      Im Herbst desselben Jahres schickte meine Großmutter ihren lieben Moritz nach Paris, vielleicht um ihn für lange Zurückgezogenheit zu entschädigen, vielleicht aus andern, ernstern Gründen, die in den Briefen angedeutet zu sein scheinen, die ich aber nicht vollständig kenne.

      In diesen allerliebsten Briefen, deren größter Theil hier natürlich wegfallen muß, wird die Physiognomie von Paris unter dem Direktorium so treffend geschildert, daß ich hier Einiges daraus einschalte.

      2. Oct. 1796.

      „... Gestern bin ich in einem sehr schönen Concerte gewesen, das im Theater Louvois stattfand. Gunnin und der alte Garigny leiteten das Orchester.“

      „Du erinnerst Dich unsers alten Garigny, der zur Zeit des „Devin du village“ mit meinem Vater und mit Rousseau so gut bekannt war, und der während meiner Verbannung nach Passy auf so sonderbare Weise meine Bekanntschaft gemacht hat? Nun wohl! das Publikum hat eine Wiederholung seines Liedes verlangt und er hat seine Sachen so gut gemacht, daß er im vollen Sinne des Wortes mit Beifall überschüttet wurde. Für einen Mann von fünfundsiebenzig Jahren ist das wirklich nicht übel und es hat mir große Freude gemacht.“

      „Nun gebe ich Dir noch zu rathen, wen ich in diesem Concerte getroffen und erkannt habe. In einem ganz modernen Kleide, mit ausgeschnittenen Schuhen und großen Locken habe ich den Sansculotten S... gesehen und habe mit ihm gesprochen. Er ist jetzt ein Merveilleux — das sind Begegnungen, um vor Lachen zu sterben! er hat viel nach Dir gefragt; im Jahre zwei war er nicht so fein!“

      „Leb wohl, mein Mütterchen! die Zeit drängt, ich gehe in die Oper. Du fehlst mir in jedem Augenblicke und alle Freuden, die ich fern von Dir genieße, sind unvollkommen. Ich umarme Dich tausendmal und schicke Dir tausend Grüße für das „gute Thierchen“, meine Wärterin.“

      Den 3. Oct.

      „Ich verließ Dich neulich, um in die Oper zu gehen. „Corisande“ sollte gegeben werden — aber man gab Renaud. Doch einem Provinzbewohner ist Alles recht — und vom Anfang bis zum Ende habe ich mit dem größten Vergnügen zugehört. Ich saß im Orchester; Herr Heckel kennt Ginguené, Direktor des Kunstausschusses, der ihm zu jeder Aufführung zwei Orchesterbillets schenkt. Das ist der Platz, zu dem sich Alles drängt, was man jetzt „die gute Gesellschaft“ zu nennen pflegt. Man sieht da reizende Frauen von wunderbarer Eleganz, aber thun sie den Mund auf, so ist Alles verloren. Da hörst Du: „Potztausend, das ist gut getanzt!“ oder: „das ist ja eine verteufelte Hitze!“ Gehst Du hinaus, so erblickst Du glänzende, lärmende Wagen, in welchen diese schöne Welt von dannen fährt, während die braven Leute zu Fuß gehen und sich durch Spöttereien rächen, wenn sie mit Koth bespritzt werden. Da wird gerufen: „Platz für den Herrn Lieferanten der Gefängnisse! — Platz für den Herrn Siegelabnehmer!“

      „Aber man geht weiter und lacht darüber. Obwohl Alles verändert ist, kann man eben so gut wie früher sagen: „Der rechtschaffene Mann ist zu Fuß und der Schurke in einer Sänfte.“ — Es sind jetzt andere Schurken — das ist Alles!“

      „Leb wohl, meine gute Mutter, ich gehe wieder in die Oper. Zum Mittagessen führt mich Heckel mit dem Herzoge zusammen. Ich umarme Dich, wie ich Dich liebe.“

      Den 15.

      „Obwohl zu Fuß, macht sich der rechtschaffene Mann in Paris nicht das Geringste aus schlechtem Wetter! Es giebt so viel zu thun und zu sehen! Morgens gehe ich in die Gemäldeausstellung, von drei bis sechs Uhr wird langsam, in guter Gesellschaft gegessen und Abends gehe ich in's Theater. Bei Frau von Ferrières habe ich mit allen Deinen Freundinnen gespeist und bin mit offenen Armen empfangen. Ach! wie hat man dort von Dir gesprochen! Das Diner war köstlich, in Silber servirt — die Republik hat doch nicht Alles genommen. Die Weine waren vorzüglich, und es waren viele so lustige junge Leute da, daß wir sogar den Herrn de la Dominière zu lautem Gelächter gebracht haben. Abends bin ich im Theater Faydeau gewesen, um l'Ecole des Péres und les folles Confidences zu sehen. Das letzte Stück wird noch eben so gespielt, wie vor 93; Fleury trug dieselbe Kleidung; Dazincourt ebenfalls.“

      Den 17.

      „Wie gut Du bist, Dich noch in Deiner Einsamkeit zu langweilen, um mich einige Tage länger in Paris zu lassen! Welche zu gütige Mutter! wenn Du bei mir wärest, würde ich mich freilich noch besser amüsiren. Heute habe ich das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden und mir ist, als hätte ich mich über mich selbst erhoben. Mein Freund Heckel hat mir zwei moralische Abhandlungen vorgelesen, die eine über die Unsterblichkeit der Seele, die andere über das wahre Glück. Alles darin ist bewunderungswürdig, tief, kurz, deutlich, eindringlich. Er hat sie im vergangenen Winter geschrieben und versichert, daß er keine andere Absicht dabei gehabt hat, als mir die Grundzüge der Tugend zu entwickeln.“

      „Bei Frau von Chabert habe ich den Oedipus mit ganz außerordentlichem Erfolge gesungen. Und wem verdanke ich diesen Erfolg? meiner guten Mutter, die sich mit meinem Unterricht gequält hat und die mehr versteht, als alle Lehrer der Welt! Nach der Musik wurde getanzt; wir waren Alle in Stiefeln, woran Du nicht Anstoß nehmen darfst, denn das ist jetzt so Sitte. Aber wie schlecht läßt sich's in Stiefeln tanzen! Nachher ist man darauf gekommen, Thee zu trinken, was jedenfalls das nüchternste und billigste Abendessen ist, das man haben kann. Leb wohl, liebe Mutter, ich umarme Dich aus voller Seele und schicke meiner Wärterin dreiunddreißig Grüße.“

      Den 19.

      „Heute Morgen habe ich wieder mit dem Herzoge und meinem Freunde Heckel gefrühstückt; wir haben gegessen wie Menschenfresser und gelacht wie verrückt. Und denke Dir, als wir drei über den Pont-neuf gegangen sind, haben uns die Fischweiber umringt und haben den Herzog als den Sohn ihres guten Königs umarmt. Du siehst, wie sich der Volksgeist geändert hat. Aber ich will mit Dir „mündlich davon sprechen“, wie Bridoison zu sagen pflegt.“

      „Jetzt will ich herumlaufen, um meine Abschiedsbesuche zu machen; denke nur nicht, daß ich mich nach Paris zurücksehne, ich komme ja zu Dir zurück.“

      „Meiner Wärterin sage ich tausend