George Sand

Geschichte meines Lebens


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hat das Letztere seitdem abgeleugnet, und da sie die Offenheit selbst war, so that sie es sicher in voller Ueberzeugung. Es ist möglich, daß sie es nicht wußte, denn in dem Sturme, der die Schwestern forttrieb, wie zwei arme, kleine Blätter, die sich hierhin und dorthin wenden, ohne zu wissen, wo sie sind — in diesem Gewirr von Unglück, Schrecken und unverstandenen Gemüthsbewegungen, die so stark waren, daß sie meiner Mutter zuweilen das Gedächtniß gänzlich raubten, ist es wohl möglich, daß sich die Schwestern für einige Zeit aus den Augen verloren. Es ist endlich möglich, daß Victorie, aus Furcht vor den Vorwürfen der frommen Großmutter und dem Schrecken der vorsichtigen und fleißigen Schwester, nicht zu gestehen wagte, zu welchen Hülfsmitteln das Elend und die Unvorsichtigkeit ihres Alters sie hatte greifen lassen. Aber die Thatsache ist gewiß, denn Victorie, meine Mutter, hat sie mir mitgetheilt, und zwar unter Umständen, die ich nie vergessen kann. Ich werde das seiner Zeit erzählen, aber ich muß den Leser bitten, kein Urtheil zu fällen, bis ich mit meiner Geschichte zu Ende bin.

      Ich weiß nicht, an welchem Orte es meiner Mutter während der Schreckenszeit einfiel, ein gegen die Republik gerichtetes Lied zu singen. Am andern Tage hielt man Haussuchung bei ihr und fand das Lied, welches sie von einem gewissen Abbé Borel bekommen hatte, als Manuskript. Es war wirklich aufrührerischen Inhalts, aber meine Mutter hatte nur eine Strophe, die unschuldigste, davon gesungen. Sie wurde sogleich arretirt und — Gott mag wissen warum — auch ihre Schwester Lucie. Man brachte sie zuerst nach dem Gefängnisse der Bourbe, später in ein anderes und endlich nach dem Kloster des Anglaises, wo sich wahrscheinlich zu derselben Zeit meine Großmutter befand.

      Man gab den zwei armen Kindern des Volkes dort eben so gut einen Platz, wie den vornehmsten Damen des Hofes und der Stadt. Auch Fräulein Comtat befand sich dort und war mit der Vorsteherin des Klosters, Madame Canning, innig befreundet. Die berühmte Schauspielerin hatte Anwandlungen einer tiefen und schwärmerischen Frömmigkeit und begegnete Madame Canning niemals im Kreuzgange, ohne sich vor ihr auf die Knie zu werfen und um ihren Segen zu bitten. Die gute Nonne, die viel Geist und Lebensklugheit besaß, sprach ihr Trost zu, stärkte sie gegen die Schrecken des Todes, führte sie in ihre Zelle und ermahnte sie, ohne sie einzuschüchtern, denn sie fand in ihr eine reine, schöne Seele, an der ihr nichts ein Aergerniß gab. Als ich im Kloster war, hörte ich, wie sie selbst es meiner Großmutter erzählte, wenn sie im Sprechzimmer die Erinnerungen an jene seltsamen Zeiten an sich vorüber gehen ließen.

      Es ist nicht zu verwundern, daß Maria Aurora von Sachsen und Victorie Delaborde sich zwischen einer großen Menge von Gefangenen nicht bemerkten, die sich durch den Abgang [Abgang bedeutete damals, zur Guillotine geführt werden.] des Einen und die Arrestation Anderer oft erneuerte. Sie erinnerten sich in der That nicht, einander in dieser Zeit gesehen zu haben. Aber man gestatte mir hier einen flüchtigen Romanentwurf: Ich nehme an, daß Moritz, erstarrt vor Kälte im Kreuzgange spazieren ging, wo er, in Erwartung der Stunde, die ihn zu seiner Mutter bringen sollte, die Füße durch Stampfen zu erwärmen suchte; ich nehme ferner an, daß auch Victorie durch den Kreuzgang eilte und das schöne Kind erblickte. Hätte man nun zu ihr, die damals schon neunzehn Jahr alt war, gesagt: daß dies der Sohn des Marschall von Sachsen wäre, so würde sie geantwortet haben: „Es ist ein hübscher Knabe, aber den Marschall von Sachsen kenne ich nicht.“ Und setze ich endlich voraus, daß man auch zu Moritz gesagt hätte: „sieh, dies arme, hübsche Mädchen, das nie von Deinem Großvater gehört hat, und dessen Vater Vögel in Käfigen verkauft, ist Deine künftige Frau“ — so weiß ich nicht, was er darauf erwidert hätte — aber da wäre der Roman schon angelegt.

      Uebrigens darf man nicht daran glauben. Es ist möglich, daß sie sich in diesem Kloster nie begegneten — und es ist wiederum nicht unmöglich, daß sie sich gesehen und im Vorübergehen gegrüßt haben, wäre es auch nur ein einziges Mal. Das junge Mädchen würde den jungen Schüler nicht besonders beachtet haben. Und wenn der junge Mann das Mädchen bemerkte, obwohl er durch eigne Sorgen ganz in Anspruch genommen war, hatte er sie doch einen Augenblick nachher schon wieder vergessen. Gewiß ist, daß weder der Eine noch der Andere sich einer solchen Begegnung erinnerte, als sie sich mehrere Jahre später, während eines andern Sturmes, in Italien kennen lernten.

      Die Geschichte meiner Mutter geht mir nun vollständig verloren, wie sie ihr selbst aus der Erinnerung entschwunden war. Sie wußte nur, daß sie das Gefängniß ebenso verlassen, als betreten hatte, d. h. ohne zu wissen wie und warum. Da die Großmutter Cloquart über ein Jahr nichts von ihren Enkelinnen gehört hatte, hielt sie dieselben für todt. Sie war sehr schwach geworden, als die Mädchen endlich wieder zu ihr kamen, denn statt sich in ihre Arme zu werfen, fürchtete sie sich, und hielt sie für zwei Gespenster.

      Ich werde ihre Geschichte wieder aufnehmen, so oft es mir gelingt, ihre Spur zu finden. Jetzt kehre ich zu der meines Vaters zurück, die ich, Dank seinen Briefen, nur selten aus den Augen verliere.

      Die kurzen Zusammenkünfte, welche der Mutter und dem Sohne Trost gewährten, wurden plötzlich unterbrochen. Die revolutionäre Regierung ergriff strenge Maßregeln gegen die nahen Verwandten der Gefangenen, indem sie dieselben aus dem Weichbilde von Paris verbannte, und ihnen bis auf Weiteres untersagte, dasselbe zu betreten. Mein Vater ging darauf mit Deschartres nach Passy, wo er mehrere Monate zubrachte.

      Diese zweite Trennung war schmerzlicher als die erste, weil sie eine vollständige war und die wenigen Hoffnungen zerstörte, die man sich bis dahin erhalten hatte. Meiner Großmutter war das Herz zerrissen, aber es gelang ihr, die Angst zu verbergen, die sie bei dem Gedanken empfand, daß sie ihren Sohn vielleicht zum letzten Mal umarmte.

      Mein Vater hatte zwar nicht so düstre Ahnungen, aber er war ganz niedergedrückt. So lange er seine Mutter nicht verlassen hatte, war ihm der Schmerz etwas Fremdes, Unbekanntes. Er war schön, wie eine Blume, keusch und sanft wie ein Mädchen, und mit sechszehn Jahren war seine Gesundheit noch zart und seine Seele rein. In diesem Alter ist ein Knabe, der durch eine zärtliche Mutter erzogen wurde, ein ganz eigenthümliches Wesen; er gehört so zu sagen zu keinem Geschlechte, seine Gedanken sind rein, wie die eines Engels; die kindische Koketterie, die unruhige Neugier und die mißtrauische Eigenliebe, die so oft die erste Entwickelung des Weibes trüben, sind ihm fremd, und er liebt seine Mutter, wie eine Tochter sie nicht liebt und nie lieben kann. Indem er sich in das Glück versenkt, ihre ungetheilte Liebe zu besitzen und auf das Zärtlichste gehätschelt zu werden, wird die Mutter für ihn zum Gegenstande einer Art Anbetung. Es ist Liebe, ohne die Stürme und Fehler, zu welchen ihn später die Liebe zu einem andern Weibe führen wird. Es ist die ideale Liebe, der im Leben des Mannes nur ein Augenblick gehört; kurz zuvor giebt er sich auch keine Rechenschaft von seinem Gefühl und lebt in der Befangenheit eines sanften Instinktes, und gleich nachher wird diese Liebe durch andere Leidenschaften gestört und zerstreut oder durch den siegenden Reiz der Geliebten bekämpft. Dann wird sich seinen verblendeten Augen eine Welt neuer Gefühle erschließen; aber wenn er fähig ist, dies neue Götzenbild warm und edel zu lieben, so hat er die heilige Lehre der wahren Liebe von seiner Mutter empfangen.

      Aber es scheint mir, als hätten Dichter und Romanschreiber die Fundgrube von Beobachtungen und die Quelle von Poesie nicht erkannt, welche dieser einzige kurze Augenblick im Leben des Mannes bietet. Es ist freilich wahr, daß es in unserer heutigen traurigen Welt keinen Jüngling giebt, es müßte denn ein ausnahmsweise erzogenes Wesen sein. Aber gewöhnlich erblicken wir nur einen unreinlichen, linkischen Schüler, den ein gemeines Laster befleckt, das die erste Reinheit in ihm zerstörte. Oder ist der Knabe dieser Pest der Schulen wie durch ein Wunder entgangen, so hat er doch unmöglich die Keuschheit der Einbildungskraft und die heilige Unschuld seines Alters bewahrt. Ueberdies nährt er einen versteckten Haß gegen die Kameraden, die ihn verführen wollen, wie gegen die Aufseher, die ihn unterdrücken. Er ist häßlich, selbst wenn ihn die Natur schön gebildet hat; er trägt eine widerwärtige Kleidung, hat ein blödes Wesen und schaut Niemand offen in's Gesicht. Im Geheimen verschlingt er die schlechtesten Bücher, aber er fürchtet den Anblick der Frauen und die Liebkosungen seiner Mutter verursachen ihm ein Gefühl der Scham, als ob er sich ihrer Zärtlichkeit unwürdig fühlte. Die schönsten Sprachen der Welt, die herrlichsten Dichtungen des Menschengeschlechts sind für ihn nur Gegenstände der Ermüdung, des Widerstrebens und des Ekels. Da ihm die beste Geistesnahrung auf rohe, sinnlose Art gereicht wird, verdirbt sein Geschmack und wendet sich dem Schlechten zu — und er wird jahrelanger