George Sand

Geschichte meines Lebens


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das Gefängniß nur verlassen, um dem Abnehmen der Siegel und der Prüfung ihrer Papiere beizuwohnen. Obwohl diese Haussuchung neun Stunden lang dauerte, fand sich natürlich nichts, was den Interessen der Republik zuwider gewesen wäre, und da sie diese Zeit mit ihrem Sohne Zusammensein konnte, war es für meine Großmutter ein glücklicher Tag. Die Zärtlichkeit der beiden rührte die Commissarien sehr, besonders den Bürger Philidor, der, wenn ich nicht irre, ein ehemaliger Perrückenmacher, ein eifriger Patriot und jedenfalls ein sehr rechtlicher Mann war. Er faßte eine besondere Vorliebe für meinen Vater, und that alles Mögliche, um das Urtheil meiner Großmutter zu beschleunigen, weil er hoffte, daß sie freigesprochen werden sollte; seine Bemühungen wurden jedoch erst zur Zeit der Reaction mit Erfolg gekrönt.

      Am Abend des 16. Nivose führte Philidor seine Gefangene ins Kloster des Anglaises zurück und sie blieb daselbst bis zum 4. Fructidor (22. August 1794). Eine Zeit lang durfte mein Vater seine Mutter täglich einige Augenblicke im Sprechzimmer sehen. Er pflegte diesen glückseligen Moment im Kreuzgange in einer eisigen Kälte zu erwarten — und Gott sei geklagt, wie kalt es in diesem Kreuzgange ist, den auch ich drei Jahre lang in allen Richtungen durchschritten habe, denn ich bin in demselben Kloster erzogen. Mein Vater mußte oft stundenlang warten, weil besonders in der ersten Zeit die Sprechstunden täglich geändert wurden, entweder nach Belieben der Wächter oder auf Befehl der revolutionären Regierung, die einen zu häufigen und zu leichten Verkehr der Gefangenen mit ihren Angehörigen fürchten mochte. Zu andern Zeiten würde sich der zarte, schwächliche Knabe eine Brustentzündung zugezogen haben, aber heftige Gemüthsbewegungen schaffen uns eine andere Gesundheit, eine andere Organisation — er bekam nicht einmal den Schnupfen, und verlernte rasch sich immer zu beachten, und seiner Mutter, wie er sonst gethan hatte, das geringste kleine Leiden, die geringste Widerwärtigkeit zu klagen. Er wurde plötzlich zu dem, was er hinfort bleiben sollte und das verzogene Kind verschwand, um sich nie wieder zu zeigen. Wenn er seine arme Mutter bleich und erschreckt an das Gitter treten sah, weil er so lange auf sie gewartet hatte; wenn er bemerkte, daß sie im Begriff war in Thränen auszubrechen, so oft sie seine kalten Hände berührte; und wenn sie ihn bat, lieber nicht mehr zu kommen, als sich diesen Leiden auszusetzen, schämte er sich der Weichlichkeit, in die er sich hatte einwiegen lassen; er machte sich zum Vorwurf, die Entwicklung dieser übermäßigen Sorgfalt gefördert zu haben — und da er nun aus Erfahrung wußte, was es heißt für seine Lieben zu zittern und zu bangen, leugnete er das lange Warten, versicherte die Kälte nicht zu empfinden und brachte es endlich durch die Kraft seines Willens so weit, daß ihn der Frost in Wahrheit nicht mehr quälte.

      Seine Studien waren natürlich unterbrochen; von Musik-, Tanz- und Fecht-Stunde war nicht mehr die Rede. Der gute Deschartres sogar, der so sehr zu unterrichten liebte, hatte jetzt ebensowenig Sinn für die Stunden, als der Schüler. Aber die Erziehung der Verhältnisse ersetzte die frühere vollkommen und diese ganze Zeit war für den Knaben nicht verloren, denn sie entwickelte das Gemüth und das Bewußtsein des Mannes.

       Sophie Victoria Antoinette Delaborde, — Mutter Cisquart und ihre Nichte im Stadthause. — Ueber das Jünglingsalter. — Außer der officiellen giebt es noch eine innere Geschichte der Nationen. — Sammlung von Briefen in der Schreckenszeit.

      Ich verlasse für wenige Augenblicke die Geschichte meiner väterlichen Geschlechtslinie, um eine neue Persönlichkeit einzuführen, die ein seltsamer Zufall zu derselben Zeit in dasselbe Gefängniß brachte.

      Ich habe von Anton Delaborde gesprochen, dem Ballspielhausaufseher und Meister Vogelhändler, d. h. von meinem Großvater mütterlicher Seits, der Vögel verkaufte, nachdem er ein Billard gehalten hatte. Wenn ich weiter nichts von ihm sage, so ist es, weil ich weiter nichts von ihm weiß. Meine Mutter sprach fast nie von ihren Eltern, denn sie hatte dieselben wenig gekannt und schon verloren, als sie noch ein Kind war. Wer ihr Großvater gewesen ist, wußte sie ebensowenig, als ich es weiß und auch ihre Großmutter kannte sie nicht. In diesem Punkte können die Geschlechtsregister der Plebejer nicht gegen die der Reichen und Mächtigen Stand halten. Hätten sie auch die besten oder die verworfensten Geschöpfe hervorgebracht — sie würden Straflosigkeit für die einen, Undank für die andern haben. Der Arme stirbt vollständig — die Verachtung des Reichen verschließt sein Grab und geht darüber hin ohne selbst zu wissen, daß es Menschenstaub ist, den ihr Fuß niedertritt.

      Meine Mutter und meine Tante haben mir von einer Großmutter mütterlicher Seite erzählt, die sie erzog und gut und fromm war. Ich glaube nicht, daß die Revolution diese Familie zu Grunde richtete — sie hatte nichts zu verlieren und litt nur, wie das ganze Volk, durch die Theuerung der Lebensmittel; aber die Großmutter war, Gott weiß warum, Royalistin und erzog ihre beiden Enkelinnen im Abscheu vor der Revolution, von der sie nicht das Geringste verstanden. — Eines schönen Morgens holte man die älteste, welche fünfzehn bis sechszehn Jahr alt war und Sophie Victorie, ja selbst Antoinette (wie die Königin von Frankreich) hieß, um sie ganz weiß zu kleiden, zu pudern, mit Rosen zu schmücken und nach dem Stadthause zu führen. Sie wußte nicht, was das Alles bedeuten solle, aber die angesehensten Plebejer des Viertels, die eben von der Bastille und von Versailles zurückgekehrt waren, sagten ihr: „Kleine Bürgerin, Du bist das hübscheste Mädchen dieses Bezirkes, man wird Dich putzen; der Bürger Collot d'Herbois, welcher Schauspieler am Theater français ist, wird Dich einen Glückwunsch in Versen mit den nöthigen Gestikulationen lehren und hier ist ein Blumenkranz. Wir werden Dich nach dem Stadthause führen, dort sollst Du die Blumen überreichen und den Bürgern Bailly und Lafayette Deinen Glückwunsch hersagen und Du wirst Dich um das Vaterland verdient gemacht haben.“

      Victorie spielte ihre Rolle mit großer Lebhaftigkeit; sie war von einer Menge hübscher, junger Mädchen umgeben, die jedoch nicht so viel Anmuth besaßen, wie sie, und den Helden des Tages nichts zu sagen oder zu überreichen hatten und nur zur Augenweide dienen sollten.

      Mutter Cloquart, die Großmutter Victoriens — folgte ihrer Enkelin mit Lucie der jüngern Schwester und beide waren sehr glücklich und sehr stolz, als sie, sich durch die ungeheuere Menschenmenge drängend, endlich den Eingang des Stadthauses erreichten und sahen, mit welcher Grazie die Perle des Bezirkes ihren Glückwunsch vortrug und den Blumenkranz überreichte. Herr von Lafayette war gerührt — er nahm den Kranz und legte ihn mit den Worten: „Diese Blumen, liebenswürdiges Kind, passen besser zu Deinem Gesicht als zu dem meinigen,“ sanft und väterlich auf das Haupt Victoria's. — Man applaudirte und setzte sich zu einem Gastmahl, das zu Ehren Lafayette's und Bailly's veranstaltet war — endlich begann man um die Tische zu tanzen und zog auch die jungen Mädchen mit in den Kreis; die Menge wurde so dicht und lärmend, daß die gute Mutter Cloquart und die kleine Lucie die triumphirende Victorie aus den Augen verloren und nicht hoffen konnten, sie wieder zu finden — sie fürchteten erdrückt zu werden und gingen hinaus auf den Platz, um sie dort zu erwarten; aber auch von da verjagte sie die Menge. Das Geschrei des Enthusiasmus flößte ihnen Furcht ein; Mutter Cloquart, die nicht besonders muthig war, glaubte, Paris stürze über ihr zusammen und lief, weinend und schreiend, daß Victoria in diesem riesigen Rundtanze erdrückt und umgebracht werden würde, mit Lucie davon.

      Erst gegen Abend kehrte Victoria in ihre ärmliche, kleine Wohnung zurück — sie wurde von einer Anzahl Patrioten beider Geschlechter begleitet, die sie so gut beschützt und mit so viel Ehrerbietung behandelt hatten, daß nicht einmal ihr weißes Kleid zerdrückt war.

      An welches politische Ereigniß sich dieses, im Stadthause gegebene Fest knüpft, weiß ich nicht — weder meine Mutter noch meine Tante haben es mir sagen können; gewiß wußten sie es ebensowenig, als sie eine Rolle dabei spielten. Wie ich vermuthe, war es, als Lafayette der Commune anzeigte, daß der König sich entschlossen habe, in seine gute Stadt Paris zurückzukehren.

      Wahrscheinlich fanden zu jener Zeit die kleinen Bürgerinnen Delaborde die Revolution sehr ergötzlich — aber später sahen sie einen schönen Kopf mit prächtigem blonden Haar auf einer Pike vorübertragen; es war der Kopf der unglücklichen Prinzessin Lamballe, und dieser Anblick machte einen so entsetzlichen Eindruck auf sie, daß ihr Urtheil über die Revolution immer durch diese grauenvolle Erscheinung bestimmt wurde.

      Sie