George Sand

Geschichte meines Lebens


Скачать книгу

ihren Verkehr mit Emigranten bezeugten; ein Verkehr, der gewiß sehr unschuldig war, der ihr aber als Staatsverbrechen und Verrath der Republik angerechnet werden konnte.

      In dem letzten Protokolle, das ich angeführt habe — und Gott mag wissen, mit welcher Verachtung und welchem Puristen-Zorne Deschartres diese Akten betrachtete, die in so schlechter Sprache verfaßt waren — in diesem Protokoll, dessen zahlreiche Fehler ihm Gänsehaut verursachten, ist nichts von einem kleinen Entresol gesagt, der sich über der ersten Etage befand und zu der Wohnung meiner Großmutter gehörte. Man erreichte denselben durch eine geheime Treppe, die sich in einem Ankleidezimmer befand.

      Aus diesem Entresol, dessen Fenster und Thüren versiegelt waren, mußten die Papiere geholt werden. Um dahin zu gelangen, mußte man also drei Siegel lösen: das erste an der Thüre des ersten Stocks, die auf die Haupttreppe führte; das zweite an der Thüre des Ankleidezimmers, durch welche man die geheime Treppe erreichte, und das,dritte oben, am Eingang zum Entresol. Die Loge des Bürger Portiers, der ein wüthender Republikaner war, lag gerade unter den Zimmern meiner Großmutter; und der Corporal Leblanc, der unbestechliche Bürger, dem die Bewachung der Siegel im zweiten Stocke anvertraut war, schlief auf einem Feldbette neben Herrn Amonin's Zimmer, das heißt gerade über dem Entresol. Er war bis an die Zähne bewaffnet und hatte Befehl auf einen Jeden zu feuern, der es wagen würde, sich in die eine oder andere Wohnung einzuschleichen. Und der Bürger Froc, der trotz seines Portierberufes einen sehr leisen Schlaf hatte, brauchte nur an der Schnur einer Klingel zu ziehen, die sich unter den Fenstern des Corporals befand, um diesen bei dem geringsten Alarm herbeizurufen.

      Für einen Menschen, der sich in der Kunst Thüren zu öffnen und lautlos einherzuschleichen, nicht die hohe Fertigkeit erworben hat, welche sich die Herrn Diebe durch lange Studien verschaffen, war das Unternehmen ein tollkühnes zu nennen. Aber der wahre Opfermuth schafft Wunder! Deschartres versah sich mit allem Nöthigen und wartete, bis alle Hausgenossen zur Ruhe gegangen waren. Erst um zwei Uhr ist Alles still. Deschartres steht auf, kleidet sich geräuschlos an und füllt seine Taschen mit den Instrumenten, deren er bedarf und die er sich nicht ohne Gefahr verschafft hat. Er löst das erste Siegel, dann das zweite, endlich das dritte; er hat den Entresol erreicht und nun handelt es sich darum, ein Pult von eingelegter Arbeit, das meine Großmutter als Schatulle benutzte, zu erbrechen, und neunundzwanzig Mappen voll Papiere durchzusehen, da meine Großmutter nicht zu bezeichnen wußte, in welcher Mappe die verdächtigenden Briefe wären.

      Deschartres läßt sich nicht entmuthigen; er beginnt zu prüfen, auszusuchen und zu verbrennen. Es schlägt drei Uhr und noch regt sich nichts ... aber doch! — die Dielen im Salon der ersten Etage knarren unter leichten Schritten. Vielleicht ist es Nérina, die Lieblingshündin der Gefangenen, die neben Deschartres' Bette schläft und ihm gefolgt sein kann. Er hat nämlich auf alle Gefahr hin die Thüren hinter sich offen lassen müssen, denn der Portier besitzt die Schlüssel und Deschartres hat mit Hülfe eines Dietrichs geöffnet.

      Wenn man so aufmerksam horcht, daß das Herz laut schlägt und das Blut in den Ohren braust, kommt ein Augenblick, wo alles Hören vergeht. Der arme Deschartres stand unbeweglich, versteinert da — denn wenn ihn der Alp nicht drückt, so kommt es die Treppe herauf und das ist nicht Nérina, das sind menschliche Schritte. Und es kommt vorsichtig naher ... Deschartres hatte sich mit einer Pistole bewaffnet, er spannt den Hahn und nähert sich der Treppenthüre ... aber er läßt den erhobenen Arm wieder sinken, denn es ist Moritz, sein geliebter Schüler, der ihm gefolgt ist.

      Der Knabe hat den Plan, der ihm verborgen bleiben sollte, errathen, erspäht; und kommt, um zu helfen. Deschartres, erschreckt, ihn diese fürchterliche Gefahr theilen zu sehen, will sprechen, ihn zurückweisen, aber Moritz legt ihm die Hand auf den Mund. Deschartres begreift, daß ein Laut, ein Wort sie beide verderben kann — und überdies beweist ihm die Haltung des Knaben, daß er nicht weichen wird.

      So begeben sich denn beide im tiefsten Schweigen an die Arbeit; mit der Durchsicht der Papiere wird so schnell als möglich fortgefahren und das Schädliche wird verbrannt; aber wie... es schlägt vier Uhr ... das Schließen der Thüren und Wiederherstellen der Siegel erfordert wenigstens eine Stunde die Hälfte der Arbeit ist kaum vollendet und um fünf Uhr ist der Bürger Leblanc unfehlbar erwacht.

      Da hilft kein Zaudern; durch Zeichen giebt Moritz seinem Freunde zu verstehen, daß sie die folgende Nacht zurückkehren müssen. Ueberdies beginnt die unglückliche Nérina, die er in seinem Zimmer eingesperrt hat, zu jammern und zu heulen, weil sie sich allein sieht. Man schließt also Alles, läßt im Innern die zerrissenen Siegel, und begnügt sich damit, das der Eingangsthüre an der großen Treppe wiederherzustellen. Mein Vater hält das Licht und reicht das Siegellack, und Deschartres, der sich einen Abdruck der Siegel verschafft hat, löst seine Aufgabe mit der Eile und Gewandtheit eines Mannes. der die schwierigsten chirurgischen Operationen vollbracht hat. Dann kehren sie in ihre Gemächer zurück und legen sich wieder nieder. Sie können nun zwar ruhig sein über sich selbst, aber der Erfolg ihres Unternehmens ist noch immer nicht gesichert; denn man kann im Laufe des Tages kommen, um die Siegel abzunehmen, in den Zimmern ist Alles in Verwirrung geblieben und die gefährlichsten Papiere haben noch nicht entdeckt und vernichtet werden können.

      Glücklicherweise ging der entsetzliche, erwartungsvolle Tag ohne Katastrophe vorüber. Mein Vater trug Nérina zu einem Freunde, Deschartres kaufte ein Paar Eggenschuhe für seinen Zögling, ölte die Thüren ihrer Wohnung, ordnete seine Instrumente und versuchte nicht des Knaben heldenmüthigen Entschluß wankend zu machen. „Ich wußte,“ sagte Deschartres, als er mir diese Geschichte fünfundzwanzig Jahre später erzählte, „ich wußte wohl, daß mir Madame Dupin im Fall des Mißlingens nie vergeben haben würde, ihren Sohn in solche Gefahr gestürzt zu haben; aber hatte ich das Recht einen guten Sohn zu hindern, wenn er sein Leben für die Mutter aufs Spiel setzen wollte? Das wäre jedem gesunden Erziehungsgrundsatze zuwider gewesen — und Erzieher war ich doch vor allen Dingen.“

      In der folgenden Nacht hatten sie mehr Zeit zu ihren Arbeiten, die Wächter gingen früher zu Bett, so daß sie eine Stunde eher beginnen konnten. Die Papiere wurden gefunden und verbrannt, die Asche wurde in eine Schachtel gethan und mitgenommen, um im Laufe des Tages gänzlich fortgeschafft zu werden. Nachdem alle Mappen durchgesehen und gesichtet waren, wurden noch einige Schmucksachen und Petschafte mit Wappen zerbrochen, sie rissen sogar von den Umschlägen der Prachtbände die Wappen ab. Endlich, nachdem ihre Aufgabe vollendet war, wurden die Siegel wieder angelegt: die Abdrücke vortrefflich hergestellt; die Papierstreifen schienen unverletzt, die Thüren wurden ohne Geräusch geschlossen; nachdem die beiden Gefährten ihre edle That mit dem Geheimniß und den angstvollen Schauern vollführt hatten, welche die Ausübung des Verbrechens begleiten, konnten sie sich noch zur rechten Stunde in ihre Gemächer zurückziehen. Und hier fielen sie sich in die Arme und weinten zusammen ohne zu sprechen, denn sie hofften meine Großmutter gerettet zu haben. Aber noch lange mußten sie in qualvoller Sorge leben; ihre Haft verlängerte sich bis nach der Katastrophe des 9. Thermidor und bis zu jener Zeit wurden die revolutionären Gerichte täglich argwöhnischer und schrecklicher.

      Am 16. Nivose, das heißt etwa einen Monat später wurde meine Großmutter aus dem Gefängniß in ihre Wohnung geführt; Bürger Philidor, der Commissär, der sie bewachte, war ein sehr humaner Mann, der sich mehr und mehr zu ihren Gunsten gestimmt fühlte. Das Protokoll, das unter seinen Augen aufgenommen und von ihm unterzeichnet ist, bestätigt, daß die Siegel unverletzt gefunden wurden; und da der Bürger-Portier keinesfalls Nachsicht geübt haben würde, muß angenommen werden, daß keine Spur das Eindringen verrieth.

      Im Vorübergehen will ich bemerken, was ich nicht vergessen möchte, daß der brave Deschartres mir diese Geschichte nie erzählte, als wenn ich mit Fragen auf ihn eindrang; und auch dann erzählte er sie schlecht und die Einzelheiten habe ich nur durch meine Großmutter erfahren. Dennoch habe ich nie einen Erzähler gekannt, der weitschweifiger, peinlicher, pedantischer, eitler auf sein Thun in den größten Kleinigkeiten und mehr geneigt gewesen wäre, sich selbst reden zu hören, als dieser gute Mann. Er ermangelte nie, Abends eine Reihenfolge von Anekdoten und merkwürdigen Ereignissen aus seinem Leben zu erzählen, die ich nachgerade so gut kannte, daß ich ihn zurecht wies, wenn er sich nur um ein Wort irrte. Er gehörte zu denen, die nicht wissen, was sie groß macht, und wenn es darauf ankam, das Heldenmüthige seines Charakters