Robert Hoffmann

Die unbeschriebene Welt


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einer ziegelroten Schicht überdecke. Dies käme von der Vulkanasche des Rufus. Er beschreibt, wie er es liebe, sich immer wieder neue Formen für seine Sonnenschirme auszudenken. Sie fragt ihn schließlich, ob er sie nicht nach Parius begleiten möge, wo er doch sowieso kein Ziel habe. Er stimmt zu.

      »Phil, wenn du bleiben möchtest, solltest du aber von Sonnen- auf Regenschirme umsteigen. Nicht, dass wir keine Sonnentage hätten, aber der rote Regen ist nicht ohne Grund unser Wahrzeichen.«

       Zwischen den nächsten Szenen liegen abermals größere zeitliche Abstände. Phil richtet sich in Parius eine kleine Werkstatt ein und fertigt Regen- und Sonnenschirme an. Er und Silvia werden ein Paar und bekommen eine Tochter. In einer Szene bringt Phil ihr die Herstellung der Schirme bei. Er erklärt dem interessierten Mädchen, welche Stoffe sich für den Schirm am besten eignen und wie der Klappmechanismus funktioniert. Plötzlich durchdringt ein heftiger Paukenschlag das ganze Theater. Einige erschreckte Laute sind im Publikum zu hören. Silvia kommt in die Werkstatt gerannt.

      »Phil, es ist, wie wir befürchtet hatten, der Rufus, er ist wieder aktiv! Die Leute sagen, er könnte kurz vor dem Ausbruch stehen.«

      »Pack das Nötigste zusammen, wir müssen hier sofort weg!«

       Sie rennen durch die Stadt. Auf den Straßen ist ein wildes Durcheinander von hektischen Menschen. Ein weiterer Paukenschlag lässt die Bühne vibrieren. Die Luft ist durchsetzt von kleinen roten Stofffetzen. Alle Darsteller bewegen sich nun wie in Zeitlupe.

      »Nein«, haucht Maria neben mir.

       Mina läuft von der Seite in die unwirkliche Szene hinein und kommt vor Phil zum Stehen.

      »Es ist an der Zeit, ... verliere die Welt, erlange die Freiheit.«

       Mit einem Mal löst sich Phil aus der Zeitlupenbewegung und schaut sie ruhig an.

      »Jetzt erkenne ich dich. Du bist Mina!«

      »Ja, und du bist Alex«, erwidert sie. Er nickt.

       Ich bin verwirrt. Natürlich ist das Mina, aber wer ist Alex? Phil wendet seinen Blick in das Publikum. Mit einem Ruck springt er plötzlich von der Bühne.

      »Es ist nur ein Theaterstück!«, ruft er und rennt durch die Zuschauerreihen. »Nur ein Theaterstück!«

       Das Bühnenlicht erlischt. Der Hauptvorhang fällt herab. Es bleibt nur die Dämmerung und totale Stille. Im Theater sind verwirrte und teilweise erschreckte Blicke zu erahnen. Dann, wie die ersten Tropfen eines heraufziehenden Sommerregens, fallen vereinzelte Klatscher; immer mehr stimmen ein, scheinen kurz einen Rhythmus zu finden, bis alles zu einem tosenden Applaus anschwillt. Der Vorhang hebt sich. Die Bühne wird erleuchtet und die aufgereihten Darsteller verbeugen sich. Will springt neben mir auf und macht sich auf dem Weg zur Bühne.

      »Ja, das war fraglos ein überraschendes Ende«, bemerkt Maria. »Ich weiß nicht, war es nun ein trauriges oder doch eher hoffnungsvolles Stück?«

       Ich bemerke einige Regentropfen auf meinem Arm.

      »Angesichts dessen, dass wir hier in der Nähe eines Wasserfalls und nicht eines Vulkans leben, stimmt es mich eher hoffnungsvoll.«

      »Ja, es ist eben eine Frage der Perspektive«, erwidert sie und schaut blinzelnd in den Himmel, dann schüttelt sie den Kopf. »Aber ich will die Welt nicht verlieren, ich finde sie gut, so wie sie ist.«

       Ihr Gesicht ist so nahe, dass ich ihren Atem spüre.

      »Aber nichts ist für immer, alles ändert sich irgendwann.«

      Sie lächelt. »Aber im Moment doch nur zum Guten.«

      »Ach, da seid ihr ja noch«, höre ich Will hinter mir. »Mina und ich wollen noch in das Lokal vorn am Brunnenplatz. Wollt ihr nicht mitkommen?«

      »Sicher«, erwidert Maria.

      Das Lokal ist gut gefüllt, wir finden dennoch einen freien Tisch. Mina, immer noch in ihrem weißen Bühnengewand, wird mit einem kleinen Applaus begrüßt, sie lacht herzhaft und wirkt beinahe etwas verlegen. Von einem der anderen Tische tönt ein Lied herüber, sie stoßen mit ihren Gläsern an und brechen in Gelächter aus. Der Regen prasselt auf das Dach der Veranda, die Tropfen ziehen feine senkrechte Linien, die hier und da im Schein der gelben Laternen durch die Dämmerung flirren. Es liegt ein Geruch von frischem Gebäck und Mandeln in der Luft.

      »Mina, ich bin über das Theaterstück wirklich erstaunt«, betone ich. »Die Welt von Phil hatte so viel — wie soll ich sagen — Dinge, mit denen wir in Memoria eher nicht vertraut sind, so als ... wenn sich doch jemand wieder erinnert hätte.«

      Sie nickt. »Ja, wir haben einiges an Material im Depot gefunden, eine unsagbare Inspirationsquelle, sag ich euch. Wusstet ihr, dass Will die Rolle des Anklägers angeboten wurde? Aber er wollte nicht.«

       Will nippt kurz an seinem Getränk.

      »Bin halt kein Schauspieler, ... ist quasi nich‘ meine Richtung.«

      »Was meinst du mit: im Depot gefunden?«, frage ich. Maria streicht mit dem Finger über den Rand ihres Glases.

      »Im Depot sammeln wir alle Gegenstände, die wir so dabei hatten, als wir hier in Memoria aufgewacht sind«, sagt sie.

      »Jules hat mir gestern eine Schublade voll mit Handys gezeigt, ... aber das ist nicht das Depot?«

      »Nein«, erwidert sie, »die meisten Geräte aus dem Depot sind mittlerweile bei Jules. Keines von ihnen funktioniert mehr, und er wollte herausfinden weswegen. Das Depot befindet sich im Auditorium, es ist ein kleines Zimmer rechts vom Foyer.«

       Mina winkt jemandem zu.

      »Joseph, kannst du uns noch einen Krug von dem Gerstenwein bringen? Ach, und natürlich einen Mohnkuchen für uns — das wär ganz lieb«, ruft sie. »Wo waren wir? Ach ja, das Depot, dort haben wir auch ein paar alte Bücher. Das Theaterstück basiert freilich nicht direkt auf einem davon, aber die verschiedenen Schauplätze und so einige Ideen — wie die Szene mit der Gerichtsverhandlung — beruhen schon auf der einen oder anderen Geschichte.«

      »Und Paul, was befand sich damals in deinen Taschen?«, fragt Will.

      »Ich hatte ein Notizbuch dabei. Voll mit Listen und Abkürzungen, die ich nicht recht verstehe. Leider habe ich es wohl irgendwo oben am Wasserfall verloren.«

      Maria schmunzelt. »Nun ja, wenn du damit nichts mehr anzufangen weißt, dann kannst du ja auch darauf verzichten.«

       Ich merke, wie mir unwohl bei dem Gedanken ist, das Notizbuch aufzugeben. Irgendetwas, irgendein Hinweis könnte dort vielleicht enthalten sein. Joseph taucht mit der Bestellung an unserem Tisch auf.

      »Mina, da hast du aber Glück, das ist mein letzter Mohnkuchen für heute«, sagt er und stellt einen großen Teller vor uns ab. Darauf befindet sich ein kreisrunder Kuchen, umgeben von einigen kleinen Schalen, die mit verschiedenfarbigen Soßen gefüllt sind. Will nimmt sich ein Stück und tunkt es in eine der Schalen.

      Mina lacht. »Wie süß von dir, dass du mir immer einen zurückhältst. Übrigens, ich hab ganz neue Stoffmuster, die passen vorzüglich zu deiner Einrichtung. Komm einfach vorbei«, sagt sie und prostet ihm zu.

       Will zeigt auf das dunkelbraune Gebäck.

      »Paul, probiere ein Stück mit der Pilzsoße, das ist so lecker ...«

      »Pilzsoße? Naja, solange sie nicht aus dem Depot kommt.«

       Ich nehme ein kleines Stück, tunke es in die Soße und koste davon.

      »Also«, sagt Will zögerlich, »quasi ... kommt sie schon von dort.«

      Ein leicht fauliger Geschmack breitet sich im Mund aus, und ich schlucke das Stück widerwillig herunter. Es bleibt mir im Hals stecken, und ich muss husten.

      »Das Rezept meine ich natürlich, nicht die Pilze«, fügt Will hinzu.

      »Die Soße ... schmeckt wirklich wie hundert Jahre alt«, erwidere ich räuspernd.

       Mina fängt schallend an zu lachen, und kurz