Robert Hoffmann

Die unbeschriebene Welt


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Ein kleiner Mann mit kurzem, grauen Haarkranz betritt die Bühne. Er blickt suchend über den sandigen Boden. Sein Hemd und seine Hose sind völlig zerschlissen. Hin und wieder durchzieht er mit einem Stock prüfend das Erdreich. Im Hintergrund befinden sich Palmen, aufgemalt auf einer Leinwand. Er kniet sich nieder, scharrt etwas frei und streift den Sand davon ab.

      »Ja, genau, was ich suche!«, ruft er. »Diese Muschel hat die richtige Form.«

       Das Licht fällt wieder auf Mina.

      »Phil war ein Reisender auf der Suche nach dem Baum der Wahrheit. Seinerzeit gab es einen weitverbreiteten Glauben an ein verzaubertes Gewächs. Es sollte die Gabe besitzen, einem zu offenbaren, wer man sei. Menschen, so die Mär, welche unter dem Baum nächtigten, riefen am Morgen voll Freud: Nun kenn ich meinen Klang im Lied der Welt!«

       Ein weiterer Vorhang öffnet sich und offenbart die ganze Tiefe der Bühne. In einer einfachen Hütte fertigt Phil aus Ästen und Stroh ein Gestell an. Erst als er es mit großen Blättern bedeckt, erkenne ich, dass es sich um einen Schirm handelt. Die geriffelte und geschwungene Form erinnert tatsächlich an eine Muschel.

       Mina tritt erneut am Rand der Bühne hervor.

      »Phil war sich sicher, dass der Baum jenseits des großen Ozeans liegen müsse. So nahm er das nächste Schiff.« Sie bewegt sich einen weiteren Schritt nach vorn. Auf ihr Gewand fällt ein flackerndes Licht. »Aber dann zeigte das Meer sein teuflisches Gesicht: peitschende Winde, gewaltige Wellen, panische Schreie im berstenden Körper aus Holz und Metall. Phil rettete sich auf eine Planke und nach endlosen Tagen spülte es ihn an diese Insel.«

       Im Hintergrund fertigt Phil weiter seine Schirme an.

      »Dies alles hat ihm der Schreck längst aus seinem Verstand geraubt. Im Wald traf er auf seltsame Eingeborene. Sie nahmen ihn auf und teilten ihr Essen mit ihm. Er bedankte sich mit dem Einzigem, das er nicht vergessen hatte, mit dem, was er am besten konnte.«

       Phil tritt vor die Hütte. Von allen Seiten erscheinen Darsteller mit verzerrten Masken. Sie tanzen in einer merkwürdig gebückten Haltung um ihn herum. Er nimmt seine Schirme und verteilt sie unter den Maskenwesen.

      »Ja, Franziskus, du bekommst auch einen, ... und du Sophia, du auch. So seid ihr immer geschützt vor der Sonne, meine Freunde.«

       Sie nehmen die zerbrechlichen Objekte gerne an, scheinen jedoch nicht zu verstehen, wozu sie gedacht sind. Einer schlägt den Schirm freudig gegen einen Baum, ein anderer dreht seinen Schirm auf den Kopf und setzt sich hinein. Phil beachtet es nicht weiter. Der Schiffbruch hat seinem Verstand offensichtlich schwer zugesetzt. Er fängt an, wirre Geschichten zu erzählen.

      »Wollt ihr wissen, wie ich hierher fand?«

       Die Eingeborenen scharen sich um ihn.

      »Ich segelte auf Schnee, ... natürlich kein echter Schnee. So nannte ich mein Schiff. Hatte es mir aus dem Salzbaum geschnitzt. Der wächst hier nicht. Das Holz, das ist ganz weiß, so wie das Fruchtfleisch der Kokosnuss. Ihr müsst wissen, es hatte keine Segel, also ... keine über dem Wasser. Zwei Krebsscherensegel unter dem Bug, in den Planktonwind gesetzt, gaben ihm den Antrieb. So machte ich beinahe zwanzig Knoten, selbst bei stärkster Flaute. Nur ... die See ist hungrig in diesen Breiten, langsam aber unaufhaltsam fraß es das weiße Holz. Hilflos musste ich zusehen, wie es sich auflöste, wie es unter meinen Füßen dahin schmolz. Dann als ich auf der letzten Ecke stand, sah ich die Insel, sah, wie sie im Mondlicht glitzerte. Die Sterne tanzten vor Aufregung, immer schneller und schneller. Die Wolken konnten nicht widerstehen und nahmen den Rhythmus auf. Es wirbelte und brauste um mich herum, ich sage euch, Poseidon selbst riss es aus seinem Becken und mich gleich mit. Da spannte ich meinen besten Schirm auf, hielt ihn derart geschickt in den Strom von Äther und Sternenstaub, dass ich — ihr werdet es nicht glauben — doch tatsächlich trockenen Fußes meine Ballen in den Sand des Ufers bohrte.«

       Die Eingeborenen geben zustimmende Laute von sich, obwohl ich bezweifele, dass sie auch nur ein Wort verstanden haben. Einer von ihnen reicht Phil eine längliche Frucht.

      »Nein, das ist keine gute Form. Ach, Mantis, du musst noch viel lernen, so kann man doch keine Sonnenschirme bauen.«

       Maria beugt sich zu mir herüber. »Das ist allem Anschein nach doch ein trauriges Stück. Ich wünschte, es würde nun regnen«, flüstert sie.

       In der nächsten Szene sucht Phil wieder den Strand ab, dabei stößt er auf angespülte Kisten und Trümmerteile.

      »Von wo kommt das denn her?«

       Ein Klopfen dringt aus einer der Kisten. Er geht einige Schritte auf sie zu, da springt sie auf. Eine Frau fällt heraus, ich erkenne sie an ihrem weißen Gewand — es ist Mina. Phil kniet sich neben sie.

      »Wer bist du?«

       Plötzlich öffnet sie die Augen und packt ihn am Arm.

      »Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit«, raunt sie.

       Er erstarrt. Ein dünner Vorhang — eher ein Schleier — fällt herab. Dahinter verliert sich die Szene in unscharfe Schattenspiele.

      Als sich der Vorhang wieder hebt, liegt Phil zwischen den Trümmern am Strand. Von Mina fehlt jede Spur. Er richtet sich mühsam auf und reibt sich die Augen.

      »Ich ... ich erinnere mich, ... das sind die Reste der Astonia. Ein Gewitter zog auf, der Mast brach, ... ich hatte Glück, eine Planke wurde mir ein Rettungsfloß. Wo bin ich? Gab es im Wald nicht eine Siedlung?«

       Er scheint wie ausgewechselt. Seine Körperhaltung lässt ihn nun größer erscheinen und in seiner Stimme liegt eine Zielstrebigkeit. Er muss nicht lange nach der Siedlung suchen. Die Eingeborenen tauchen auf und umkreisen ihn wieder. Diesmal jedoch haben sie ihre Masken verloren. Affengesichter, die auf die Darsteller gezeichnet wurden, kommen zum Vorschein. Sie geben Affenlaute von sich und bewegen sich nun wie welche. Einige benutzen die Sonnenschirme, um sich zu kratzen, andere versuchen damit Früchte zu pflücken. Phil sackt auf die Knie.

      »Ich Narr, ich hab unter Affen gelebt!«

       In den nächsten Szenen fertigt sich Phil aus den Resten der Astonia ein Floß an. Er kann sich nicht verzeihen, Affen für Menschen gehalten zu haben.

      »Ich bin doch nicht verrückt! Ich muss mir beim Schiffbruch den Kopf gestoßen haben. Sobald ich den Baum der Wahrheit finde, kann er mir sicher sagen, was das alles zu bedeuten hat.«

       Phil setzt das Floß in Bewegung und hält Ausschau nach Rettung. Schließlich trifft er auf ein Handelsschiff, das ihn an Bord nimmt. Der Kapitän erklärt ihm, dass er auf dem Weg zur Stadt Riga sei. Phil ist sehr erfreut, da er einst gehört hat, dass der Baum sich irgendwo im Umkreis von Riga befinden soll. Er fragt den Kapitän, ob er schon von dem Gewächs gehört hätte.

      »Natürlich! Ich bringe regelmäßig Pilger auf die andere Seite des Ozeans. Aber ich halte es nur für eine Legende.«

      »Nein, es gibt einfach zu viele Hinweise, die können doch nicht alle erfunden sein. Es soll sogar ein Buch geben, das Arbor Vera, in dem der Weg genau beschrieben sei«, erwidert Phil.

      Der Kapitän nickt. »Ja, ich hielt es sogar schon in der Hand. Ein Pilger zeigte es mir einst.«

      Phils Augen springen auf. »Erzählte er ihnen auch, wo er es erworben hatte?«

      »Nein, aber soviel ich weiß, kam er aus Riga. In der Stadt gibt es einige Buchhändler. Sie sollten es dort probieren.«

      In der nächsten Szene durchstöbert Phil Bücherregale, die auf Leinwandbahnen gezeichnet, von der Bühne hängen. Er trifft auf den Buchhändler, der ihm erklärt, dass es einige Abschriften des Arbor Vera gebe, die aber wertlos seien, da sie die Karten nicht enthielten. Nur der uralte Einband im Museum von Riga sei noch komplett.

      Phil macht sich sofort auf, betritt das Museum und findet nach kurzer Suche tatsächlich das Buch. Es liegt unter einer der Vitrinen. Das Interesse der meisten Besucher fällt jedoch auf eine silberne Lanze, dem offensichtlichen Prunkstück des Museums, auf der anderen Seite des Raumes. Auf dem Einband ist ein goldener Baum zu erkennen, darunter