Robert Hoffmann

Die unbeschriebene Welt


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verlieren. In der nächsten Szene blickt er von seinem Fenster aus auf die Stadt.

      »Was ist dort unten los? Der Turm, er brennt! Oh nein, die Meute hat ihn angezündet.«

       Sein Entsetzen steigert sich, als er bemerkt, dass die aufgebrachte Menschenmasse, mit brennenden Sonnenschirmen, zum Palast strömt. In Panik sucht er nach dem König und findet ihn, blutüberströmt mit einem Messer in der Brust, tot im Speisesaal liegen. In diesem Moment erstürmen die Aufständischen den Palast. Die Wachen fliehen vor der Überzahl. Der tobende Mob erreicht schließlich den Speisesaal. Sie umkreisen den toten König und starren ungläubig auf den Leichnam.

      Der Vorhang fällt. Ein aufgeregtes Gemurmel durchläuft das Publikum. Ich blicke zu Maria hinüber.

      »Wie spannend, was so ein Sonnenschirmmacher alles erlebt«, meint sie.

       Der Vorhang hebt sich. Phil sitzt auf einem Stuhl. Der Lichtkegel öffnet sich und vor ihm sind nun drei Personen zu erkennen, die ihrerseits an einem großen Tisch sitzen. Die Frau in der Mitte trägt eine schwarze Robe. Einige Zuschauer befinden sich hinter einer roten Kordel als Absperrung auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Ein hochgewachsener, schlanker Mann in einem Frack schreitet eine Weile vor dem Tisch hin und her, dann wendet er sich Phil zu.

      »Sie wollen dem Gericht ernsthaft weiß machen, dass sie nichts über den Turm wussten?«

       Er nimmt einen Sonnenschirm vom Tisch und öffnet ihn. Empörung bricht im Gerichtssaal aus. Die Richterin muss um Ruhe bitten.

      »Und das die Form ihrer Sonnenschirme genau der Turmkuppel entspricht, ... nur ein Zufall?«

       Phil wischt sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

      »Ich ... ich hatte keine Ahnung davon, mir wurde nicht mitgeteilt, dass es sich um ein Gefängnis handelte. Ich sah nur das Dach von meinem Fenster aus und gab den Schirmen die Form, ... ich wusste nicht ...«

       Gelächter erschallt im Gerichtssaal.

      »Ich habe den Königspalast nie verlassen ...«

       Der Ankläger zeigt mit ausgestrecktem Arm auf Phil.

      »Ganz genau! Warum verließen sie den Palast nie? Weil sie eben doch von dem Elend und dem Terror da draußen wussten!«

       Der Ankläger wendet sich der Richterin zu.

      »Ich bitte nun um das Beweisstück.«

       Die Richterin nickt. Es wird eine Bank mit Riemen und Ketten hereingetragen.

      »Dieses Möbelstück, hier nur als Referenz von über zwanzig Exemplaren, stammt aus ihrer Werkstatt, richtig?«

      »Ja ... aber ...«, stammelt Phil.

      »Das heißt, sie bauten Folterinstrumente für den König und wussten nichts davon? Wollen sie uns zum Narren halten?«

      »Nein, nein, so sah die Bank nicht aus, als sie meine Werkstatt verließ. Von Riemen und Ketten weiß ich nichts.«

      Rufe und Aufregung breiten sich im Saal aus. Diesmal hebt der Ankläger die Hände und bittet um Ruhe.

      »Ich habe mich erkundigt, es stimmt, dass diese Dinge erst im Turm angebracht wurden. Aber sie fragten auch nicht, wozu die ganzen Ösen und Bolzen nötig sind, ... weil sie es ja wussten!«

      Der Vorhang fällt.

       In der nächsten Szene läuft Phil in einer Gefängniszelle auf und ab.

      »Was wollen diese Bürger nur von mir? Was habe ich ihnen denn getan?«

       Mit einem dumpfen, schleifenden Geräusch schiebt sich plötzlich eine Wand zur Seite. Phil bleibt wie erstarrt stehen. Aus dem dunklen Spalt ragt zuerst eine Hand heraus, dann zwei Arme. Eine Gestalt schält sich aus dem Schatten — es ist Mina.

      »Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit«, flüstert sie.

       Wieder fällt der dünne, seidige Vorhang und taucht alles dahinter in ein Spiel von dunklen Flächen und Silhouetten. Als er sich schlagartig öffnet, liegt Phil auf der Pritsche. Der Spalt in der Wand wie auch Mina sind verschwunden. Er richtet sich auf und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Eine neue Szene beginnt im Gerichtssaal.

      »Sie baten um das Wort und wollen sich erklären«, meint der Ankläger. »Nun, da bin ich sehr gespannt.«

       Phil nickt und erhebt sich von seinem Stuhl. »Ich habe über die Geschehnisse nachgedacht. Es stimmt, dass ich von dem Gefängnis und der Folter nichts wusste, jedoch trifft es auch zu, dass es mich nicht interessierte. Ich hinterfragte nie, wie der König zu seinem Wohlstand kam und wie es seinem Volk ergeht. Die Wahrheit ist, ich war ausschließlich bemüht meinen Besitz und Stand zu mehren, oder zumindest zu halten. Mein Eigennutz entsprang nicht aus einer Boshaftigkeit, er formte sich aus der Furcht. Der Furcht zurückzufallen und der Befürchtung den Erwartungen nicht zu genügen. Dessen bekenne ich mich schuldig.«

       Phil setzt sich. Die Stille im Gerichtssaal wird erst von dem sichtlich überraschten Ankläger unterbrochen.

      »Über die Schuld haben sie nicht zu entscheiden. Das ist die Angelegenheit der Richterin«, sagt er mit dünner Stimme.

       Nach der Anhörung weiterer Zeugen, welche Phils Aussage zu bestätigen scheinen, kommt die Richterin zu ihrem Urteil.

      »Ich befinde den Angeklagten für schuldig, jedoch nicht im Sinne der Anklage. Ich bin davon überzeugt, dass er tatsächlich nicht wusste, was im Turm vor sich ging. Die Schuld liegt, wie der Angeklagte selbst ausführte, im Narzissmus. Desinteresse und Egoismus sind jedoch keine Straftaten vor dem Gesetz. Wären sie es, würde ein Großteil unserer Gesellschaft unter Anklage stehen. Dennoch half er dem König und schädigte somit unserem Volk. Da er kein Bürger dieses Landes ist, erkläre ich ihn hiermit zu einer unerwünschten Person. Der Angeklagte wird dazu verurteilt, das Land binnen eines Tages zu verlassen. Ende des Verfahrens.«

       In der nächsten Szene nimmt Phil auf einer Bank in einem Zugabteil Platz. Neben ihm befindet sich ein großes Fenster, hinter dem eine aufgemalte Landschaft vorbeizieht. Er blickt in eben diese, als eine dunkelhaarige Frau das Abteil betritt und sich ihm gegenübersetzt.

      »Hallo, wenn ich sie fragen darf, wohin geht ihre Reise?«, fragt sie.

      »Ich weiß es nicht, ich glaube nirgendwo hin.«

      »Das klingt ... melancholisch?«

      »Nun, bisher war ich beständig auf der Suche nach einem Sinn, und immer wenn ich dachte, ich hätte ihn gefunden, erkannte ich, dass es nur eine Illusion war. So langsam komme ich zu der Überzeugung, dass es womöglich gar keinen gibt«, erklärt er ohne sich vom Fenster abzuwenden.

      »Ah, ich sehe, sie suchten nach einer Bestimmung, einem Zweck im Leben.«

      Phil nickt und beide schauen für einige Zeit aus dem Fenster.

      »Eine Bestimmung«, meint sie schließlich, »so wie dieser Zug, dessen Zweck es ist, für immer auf dem Gleis zu fahren. Aber ... würde ein solcher Zweck uns nicht ziemlich einschränken? Immerzu auf denselben vorbestimmten Bahnen, nur hier und da bereits gestellte Weichen? Für eine Lok ist dies gewiss alles, was sie braucht, ... nur ... wird der Mensch ja nicht mit Dampf betrieben.«

       Phil schaut sie an und lehnt sich zurück.

      »Also sind wir zwecklos, sinnlos und bedeutungslos, weil wir Menschen sind«, fährt es aus ihm heraus.

      Sie schüttelt den Kopf. »Zwecklos, im Sinne von: frei von Zweck. Aber nicht bedeutungslos. Gerade weil wir zwecklos sind, sind wir frei und können, ja müssen, über Bedeutung selber verfügen, unseren eigenen Sinn bestimmen, ... in jedem Augenblick und immer wieder von Neuem.«

       Phil streift sich nachdenklich über das Kinn.

      »So hab ich das noch nie betrachtet.«

      »Ich bin Silvia«, sagt sie und reicht ihm die Hand.

      »Ich bin Phil.«

       Sie erzählt ihm, dass sie auf dem Weg zurück in das Rotgebirge sei. Er berichtet