Markus Mayer

David Schrenker ist kein Selbstmörder!


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Kuvert und ein offener Brief, welchen er der Polizei unverzüglich zufaxte. Die Beamten interpretierten diesen Brief als Abschiedsbotschaft und alarmierten die Kriminalpolizei.

      Auf das Kuvert waren mit großen handschriftlichen Lettern die Worte „Für Karina“ geschrieben. Die inzwischen eingetroffenen Beamten stellten das Kuvert sicher. Sie fanden zwar keine Hinweise zum Aufenthaltsort Schrenkers, jedoch die Daten einer Lebensversicherung, die der Vermisste (ohne das Wissen seiner Frau) Jahre vor seinem Verschwinden eröffnet bzw. abgeschlossen hatte.

      Die Behörden vor Ort veranlassten daraufhin eine groß angelegte Suchaktion. Auch spezielle Wassereinheiten wurden angefordert, denn die Vermutung lag nahe, dass sich der Vermisste, wie andere Selbstmörder in der Vergangenheit vom über 20 Meter hohen Wasserfall, der sich fußläufig vom Feriendorf befindet, in die Strömung geworfen hatte.

      Die Suche ergab nicht eine Spur und vereinzelte Hinweise von Personen, die meinten, jemanden oder etwas in dem relevanten Zeitraum ins Wasser gesprungen gesehen zu haben, wurden zwar ernst genommen, halfen aber nicht weiter. Nach zwei Wochen wurde die Suche bis auf Weiteres eingestellt. Sachverständige hielten es für sehr gut möglich, dass der Vermisste nach dem Sprung von den Wassermassen weggeschwemmt wurde und inzwischen irgendwo in der Nordsee verschollen lag.

      Während der Rest der Familie trauerte, nahm die Bewältigungsstrategie eines sehr engen Angehörigen äußerst unverständliche Formen an. Pascal Schrenker, der Bruder des Vermissten, startete eine Schmutzkampagne, die ihresgleichen sucht. „David Schrenker ist kein Selbstmörder“, so seine Behauptung. „Er hat euch alle hinters Licht geführt!“

      Dass sich inzwischen seine ganze Familie gegen ihn gewandt hat, bringt Pascal Schrenker nicht von seinen kühnen Anschuldigungen ab. „Ich bin nicht verrückt, ihr seid alle blind!“ Beweise oder Fakten hat er keine, nur eine Menge dreckiger Wäsche von seinem Bruder, die er nun über dessen Andenken ausbreitet.

      Auf dem Laptop des Vermissten fand der Bruder ein Tagebuch, das laut der Ehefrau des Vermissten passwortgeschützt war. Pascal Schrenker streitet das ab und behauptet stattdessen, von ihr überhaupt erst Zugang zum Laptop erhalten zu haben. Er sagt, David Schrenkers Tagebuch sei auch für dessen Ehefrau problemlos lesbar gewesen, sie habe aber aus Angst, darin irgendwelche unbequemen Wahrheiten zu entdecken, auf das Lesen verzichtet. Sie dagegen ist empört darüber, wie Pascal Schrenker intime Details des Paares schamlos an die Außenwelt getragen hat. Denn er konfrontierte seine Familie mit den pikanten Inhalten des Tagebuchs und als die erwarteten Reaktionen ausblieben, ging er publik.

      Lokale Zeitungen, Podcast-Redaktionen und Radiostationen führten Interviews mit ihm. Er versuchte darin seine Behauptung mit Argumenten zu untermauern. Weil Pascal Schrenker sich allerdings einige verbale Entgleisung leistete und seinen Bruder teilweise mit minutenlangen Tiraden verunglimpfte, und auch weil die ganze Geschichte des Bruderverrats einen fahlen Beigeschmack besaß, wurden die Interviews nie gedruckt oder gesendet.

      Schließlich zog Pascal Schrenker die letzten Register und veröffentlichte ein Buch im Selbstverlag, bestehend aus einer Auswahl „entlarvender“ Einträge aus dem Tagebuch David Schrenkers. Jeden der ausgewählten Einträge versah er mit konfrontierenden Kommentaren, direkt an seinen Bruder gerichtet.

      Nicht weiter spezifizierten Quellen zufolge, soll er das Buch in einer Auflage zwischen 2000 und 5000 Stück hat drucken lassen. Anscheinend hoffte er so, von den Buchläden, der Presse oder von Bloggern mehr Beachtung zu finden. Sein Ziel: Bloßstellen! David Schrenker sollte wissen, dass sein Bruder ihn durchschaut hatte.

      Tatsächlich meldete sich aber niemand bei ihm, nicht sein Bruder, nicht die Presse und auch kein Buchladen wollte diesen – mit Verlaub – beispiellosen Schund in ihren Regalen stehen haben.

      Ich bin letztlich auch nur über einige Umwege auf diese einseitige Bruderfehde aufmerksam geworden.

      Ich kontaktierte Pascal Schrenker und erfuhr, dass er auf Grund seines Fanatismus alles verloren habe, von der eigenen Familie geächtet werde und völlig verarmt sei. All seine Energie der letzten Jahre stecke im Aufdecken der Wahrheit. Indem ich ihm eine großzügige Gewinnmarge zusicherte und ihn davon überzeugte, dass er dank meiner Kontakte viel mehr Publicity würde generieren können, überließ mir Pascal Schrenker die Rechte an seinem „Buchprojekt“. Auch vier Jahre nach dem Verschwinden seines Bruders, ohne ein Lebenszeichen, hat er die Hoffnung nicht aufgegeben: Er ist davon überzeugt, David Schrenker eines Tages ausfindig zu machen und die Welt über die Wahrheit in Kenntnis zu setzen.

      Natürlich habe ich einiges überarbeiten und vor allem kürzen müssen. Die Version von Pascal Schrenker umfasste beinahe 400 Seiten, die Kommentare waren gespickt mit Beleidigungen und Wiederholungen. Die Tagebucheinträge von David Schrenker waren wenig besser. Sie strotzten nur so von Umgangssprache, Rechtschreib-, Zeichen- und Satzbaufehlern.

      Ich denke nicht, dass Pascal Schrenker die Wahrheit sagt, ich glaube aber auch nicht, dass er lügt. Denn; lügt jemand, der glaubt, die Wahrheit zu sagen? Er hält so voller Überzeugung an seiner Geschichte fest, dass es fast schon egal ist, ob sie wahr oder falsch ist. Ihre komische Tragik allein macht sie erzählenswert.

      Eine weitere Anmerkung: Obwohl er nicht jeden Tag einen Eintrag hinterließ, so umfasst das gesamte Tagebuch von David Schrenker doch über 800 Seiten. Viele der Gedanken und Überlegungen wiederholen sich, eine Menge des Geschriebenen ist für die Argumentation seines Bruders irrelevant. Deshalb habe ich das Gesamtwerk stark gekürzt, habe besonders wichtige Einträge ausgewählt und teilweise durch Gedanken aus insgesamt weniger relevanten Einträgen ergänzt. Das gleiche gilt für die Kommentare von Pascal Schrenker.

      Des Weiteren habe ich mir erlaubt, die Sprache und inhaltliche Struktur der Originalautoren etwas „glatt zu bügeln“. Dadurch verschwindet der übermäßige Gebrauch von Umgangssprache und der Inhalt gewinnt an Schlüssigkeit. Zu Gunsten eines kurzweiligeren Leseerlebnisses habe ich Formalitäten ergänzt und entsprechende Stellen des Öfteren in Dialoge umgewandelt.

      Ich hoffe, durch mein redaktionelles Wirken die Authentizität des Werkes nicht allzu schwer verletzt, sondern ganz im Gegenteil, einen Mehrwert für den Leser geschaffen zu haben.

      Tagebucheintrag vom 9. Juni 2009

      Natürlich lächelte ich – überrascht zwar – aber ich lächelte und mein kurzes Zögern bemerkte Karina nicht… Sie schien erleichtert, als ich sie in meine Arme schloss und fest an mich drückte. Sie legte mir ihr Kinn auf die Schulter und flüsterte in mein Ohr: „Freust du dich?“ Und ich nahm sie bei beiden Schultern: „Natürlich freue ich mich!“

      Ich fragte nicht, warum sie, obwohl wir immer verhüteten, trotzdem schwanger wurde. Wahrscheinlich, weil ich insgeheim weiß, dass ich selbst Schuld bin: Vor ein paar Wochen hatte sie eine Magenverstimmung und deshalb musste sie sich einige Male nachts übergeben. Als sie sich wieder wohler fühlte und wir begannen miteinander zu schlafen, meinte sie: „Vielleicht wäre es mit Kondom sicherer. Kann sein, dass ich die Pille die letzten Tage rausgekotzt habe…“ „Wie groß ist denn schon die Gefahr?“, erwiderte ich und ließ mir meine Geilheit nicht von der Vernunft versauen. Sie seufzte: „Okay, aber dann komm wenigstens nicht in mir!“ Leider konnte ich mich, als es soweit war, nicht zurückhalten.

      Sie war ein bisschen merkwürdig die letzten Tage und wie sich heute herausstellte, lag das daran, dass ihr ein Schwangerschaftstest aus der Apotheke bereits letzte Woche ein positives Resultat angezeigt hatte. Allerdings hatte sie mir nichts erzählen wollen, bevor sie sich ganz sicher war. Heute bestätigte ihr dann die Gynäkologin das Ergebnis.

      Ich habe sofort meine Eltern, meinen Bruder und den Knoll angerufen. Irgendwie bin ich ganz aufgedreht, obwohl ich noch nicht weiß, ob ich mich freuen oder fürchten soll. Alle waren sie überrascht und ein bisschen reserviert – ein Grund mehr für mich, die Fassade der freudigen Erwartung aufzuziehen und von meiner Angst nicht das Geringste durchschimmern zu lassen. Eigentlich gibt es auch keinen Grund zur Sorge: Karina und ich – wir stammen beide aus gefestigten Familienverhältnissen, unsere Eltern haben Geld und werden darüber hinaus noch sehr junge Großeltern und bei bester Gesundheit