Markus Mayer

David Schrenker ist kein Selbstmörder!


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Dein erster Eintrag… Wieso hast du damit begonnen, ein Tagebuch zu führen? Hat dich die Nachricht deiner bevorstehenden Vaterschaft in solche Panik versetzt, dass du geglaubt hast, plötzlich irgendwas in deinem Leben ändern zu müssen. War das dein erster Schritt erwachsen zu werden? Haben dich deine Gefühle so überwältigt, dass du sie irgendwie loswerden musstest? Nun, das wäre grundsätzlich schon plausibel, aber du, mein lieber Bruder, warst nie einer der irgendetwas lange ausgehalten hätte, schon gar nicht etwas, dass Disziplin erfordert. Und jeden Tag etwas schreiben? Das erfordert durchaus ein gewisses Maß an Selbstdisziplin. Weil du dieses nicht besitzt, bist du einfach kein Tagebuch-Typ und deshalb vermute ich, dass hier Hintergedanken im Spiel sind.

      Tagebucheintrag vom 1. Juli 2009

      Heute war ich mit Karina beim ersten Ultraschall und ich befürchte sie selbst war weniger aufgeregt als ich. Schon auf dem auf dem Weg ins Krankenhaus verhielt ich mich ganz fahrig, so dass sich Karina nach dem dritten Mal, als ich eine Abbiegung verpasste, ein genervtes „Das ist mein Beschützer“ nicht verkneifen konnte. Normalerweise mache ich mittags nach der Frühschicht ein kleines Nickerchen, doch der Termin war bereits um 14:30 Uhr, weshalb ich dafür heute keine Zeit hatte. Vielleicht verstärkte das meine Zerstreutheit noch ein bisschen.

      Generell muss ich sagen, dass Karinas Launen in der Schwangerschaft nicht wirklich über das Gewohnte hinausgehen. Eigentlich hat sie sich zurzeit mehr im Griff als zuvor ohne Kind im Bauch. Das könnte so sein, weil sie in ihrem Zustand mehr von mir abhängt und sie mich durchaus als einen empfindlichen Menschen kennt. Oder aber sie ist durch die bevorstehende Mutterschaft ausgeglichener und zufriedener. Relativ am Anfang unserer Beziehung meinte sie einmal, Sie werde sich erst mit Kind vollständig fühlen. Solche oder ähnliche tiefenpsychologische Offenbarungen lässt sie nur selten verlauten, doch auf Grund der Seltenheit prägen sie sich dann, wenn sie ertönen, ganz besonders tief ins Gehirn. Diese Offenbarung stammt noch aus der Anfangszeit unserer Beziehung. Wir wollen beide Kinder, doch bei mir war dieses „Wollen“ eher eine Idee, die irgendwo am Horizont der Zukunft schwebte. Nicht konkret genug, um mich ernsthaft damit zu beschäftigen. Nicht konkret genug, um Pläne zu schmieden. Bei ihr war das „Wollen“ schon damals ein sehr plastischer Wunsch und die dazugehörenden Pläne existierten bereits in ihrem Kopf. Das war mir relativ schnell klar. Doch weil ich wenig Toleranz für Pläne in diese Richtung aufbrachte, blieben ihre in ihrem Kopf. Ich verdächtige sie nicht, dass sie absichtlich schwanger wurde, weil es ihrem Plan entsprechend an der Zeit war. Obwohl mir der Gedanke schon kam, habe ich ihn inzwischen verworfen, weil ich denke, dass wenn sie schon einen Plan hat, dann hätte dieser doch Hand und Fuß und würde so etwas wie finanzielle Stabilität beinhalten. Ich verdiene im Frühdienst genug für die Miete und mein alltägliches Leben. Wenn ihr Einkommen dann wegfällt, würde es zur Not schon irgendwie für uns zwei reichen, aber sicher nicht für drei. Darüber hinaus bräuchten wir ja auch so etwas wie eine Perspektive für die Zukunft. Wir können ein Kind nicht auf Dauer in dieser kleinen Wohnung großziehen.

      Kommentar von Pascal Schrenker

       Was ist der Sinn eines Tagebuches, wenn man selbst in diesem die wahren Gedanken und Gefühle verschleiert? Hättest du, ohne den akuten Verdacht, dein Mädchen habe dich hintergangen, die Beschreibung eines alltäglichen Geschehens, in diese Sphären abschweifen lassen? Der erste Ultraschall ist doch nichts Alltägliches, stelle ich mir vor. Umso komischer ist es, dass du dieses Erlebnis zwar einleitest, dann aber ausschweifst in deine Gedanken und Erinnerungen. Du warst gekränkt, weil sie dich in einem emotionalen Moment mehr oder weniger subtil als schlechten Versorger hingestellt hat und das ging dir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Doch weil du der perfekte Partner sein willst, hast du diesen Vorwurf einfach geschluckt. In deiner Kränkung schweifst du ab in die tiefen deiner Gedankenwelt. Trotzdem wurden alte Gefühle und Verdächtigungen wieder an die Oberfläche geschwemmt. Und du weißt, dass du beim ersten Mal als du den Verdacht hattest, nicht logisch das Gegenteil schlussfolgern konntest, genauso wenig wie du es jetzt kannst. Deshalb gaukelst du dir Logik in einem fadenscheinigen Argument vor, das man auch anders sehen könnte. Zum Beispiel so: Weil du ohne den richtigen Push nie deinen Arsch hochbekommen hättest, hat sie dir mit dieser Überraschungsschwangerschaft einen Anreiz gegeben, dich ein bisschen mehr im Leben anzustrengen. Sicher ist dir diese Möglichkeit auch schon in den Kopf gekommen, doch du willst sie nicht anerkennen, weil sie dir deine Hilflosigkeit vor Augen führen würde. Da war es am besten, einfach so zu tun, als hätte ein Hintergehen nie stattgefunden.

      Tagebucheintrag vom 15. Juli 2009

      Brutale Ehrlichkeit war nie meine Stärke, das Lügen andererseits auch nicht. Ich versuche taktvoll zu sein und niemanden zu verletzen. Oft habe ich den Eindruck, dass Leute meine guten Absichten nicht erkennen und das, was ich sage, genauso auffassen, wie ich es sage: Positiv. Was denken alle denn? Wenn zum Beispiel jemand einen schrecklichen Haarschnitt hat, sage ich natürlich nicht „Deine Frisur ist scheiße!“, sondern ich warte darauf, bis er eine Mütze trägt und mache ein Kompliment von wegen: „Mützen stehen dir!“ Es muss doch eigentlich jeder gleich kapieren, dass ich einen gut gemeinten Tipp gebe und ihm gleichzeitig dabei helfe, sein Gesicht zu bewahren.

      Also, das war jetzt nur so ein Beispiel, wirklich passiert ist mir das nicht. Eine andere Situation dieser Art erlebte ich neulich mit meinem Bruder. Ich wollte ihm einen gut gemeinten Tipp geben und hab zu ihm gesagt: „Pascal, du ziehst Dinge einfach durch, überlegst nicht lange. So entschlossen sind die Wenigsten.“

      Klar klingt das erstmal richtig gut. Aber ist Entschlossenheit wirklich eine tolle Eigenschaft? Kommt drauf an, würde ich sagen. Durch die Blume wollte ich ihm klarmachen, dass er ein impulsiver Hitzkopf ist. Wenn er gestresst ist, fährt er in die Boxhalle und prügelt sich die Seele aus dem Leib. Den Sandsack stört es nicht und Pascals Gemüt kann sich wieder ein bisschen abkühlen. Doch kommt irgendwas dazwischen und schafft er es nicht rechtzeitig in die Boxhalle? Dann Gnade uns Gott!

      In ihm schlummert immer das Potential auszuticken und zwar egal, wo er gerade ist. Und weil jede noch so kleine Unaufmerksamkeit eines Mitmenschen – eingebildete oder tatsächliche – einen emotionalen Flächenbrand auslösen kann, tut er sich mit menschlichen Beziehungen sehr schwer. Er ist wahrscheinlich der schlauste Kerl, den ich kenne, doch wenn man für ein Unternehmen arbeitet, muss man auch irgendwie mit Leuten klarkommen. Er tut das nicht und ich habe immer den Eindruck, dass er es auch nicht lernen will.

      Diese Woche hat er seinen Vorgesetzten als „Wicht ohne Eier“ beschimpft, „der nicht einen Hauch von Ehre in seinem degenerierten Körper trägt und sich vom faschistischen Regime, das die Fäden über seinem hässlichen Marionettenkopf hält, in den Arsch ficken lässt“ und der „das Sperma, das noch in seinem Arschloch steckt, seinen Mitarbeitern auf den Kopf scheißt“.

      Pascal erzählt sowas dann immer voller Stolz, aber es tut weh, wenn der eigene große Bruder sich selbst im Alter von 26 Jahren nicht im Griff hat. Als er 18 war und ich 16 hab ich noch zu ihm aufgeblickt, wenn er die „Obrigkeit“ mit den krassen Beleidigungen angegangen hat, aber inzwischen, fällt es mir immer schwerer, darüber zu lachen. Irgendwann muss man besonnener sein und solche kleinen Ungerechtigkeiten, die einem das Leben hinwirft, einfach schlucken.

      Ich dachte eigentlich, es sei besser geworden. Inzwischen muss man, wenn man mit ihm aus dem Haus geht, nicht mehr davor Angst haben muss, dass ein Streit mit Fremden ausbricht, nur weil die ihn anscheinend frech angeguckt haben.

      Wie die Male zuvor auch, als er seinen Job verloren hat, wird er nun wieder Gras an 16-jährige Skaterpunks verkaufen, als erster hochbegabter Straßenköter und zwar so lange, bis er wieder zur Vernunft kommt, sich brav mit neuem Passbild, frisiertem Lebenslauf und gefälschten Arbeitszeugnissen irgendwo bewirbt, sich einen Anzug und Krawatte kauft, beim Vorstellungsgespräch überzeugt, den Job bekommt und mit seiner ihm angeborenen Energie und Zielstrebigkeit medizintechnisches Equipment an Krankenhäuser oder Minivans an Familienväter oder Rechtsschutz-Versicherungen an alte Damen verkauft. Dann fühlt er sich irgendwann respektlos behandelt, weil sein pedantischer Chef dezent anmerkt, dass er öfters fünf Minuten zu lange Mittagspause macht, worauf eine Szene epischen