Nadja Christin

Natascha


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nicht nur, ich kann es sogar spüren. Was sich da vor meinen Augen ereignet, kann ich nicht wahrhaben. Ich glaube es einfach nicht, weil ich es nicht glauben will.

      Wo bin ich hier nur rein geraten? In einen billigen, sadistischen Horrorfilm? Was soll das hier sein, ein Traum? Ein Albtraum? Oder ist es etwa eine Vision? Wer weiß schon, was dieser ganze verdammte Mist soll, der sich in diesem Augenblick vor mir abspielt.

      Anscheinend ist es nicht genug, das ich immer noch Joshs kräftigen Kinnhaken spüre, den er mir eben verpasst hat. Er war so wütend, der alte Junge, bloß weil ich ihm nicht sagen wollte, wo Natascha hingeht und was sie vorhat.

      So unvorstellbar es auch ist, aber in diesem Moment halte ich sie fest und starre zusammen mit ihr auf seine Leiche.

      Sie hat ihn erschossen, mit meiner MP.

      Da der Satz weder Sinn ergibt, noch logisch klingt, denke ich ihn sofort noch einmal, ein zweites und gleich ein drittes Mal. Aber trotzdem rieseln die Wörter lediglich durch mein Gehirn, wie feiner Sand durch ein Sieb.

      Ohne in mich einzudringen.

      Ich kann … nein … ich will es nicht begreifen.

      Was ist nur in sie gefahren?

      Warum zum Teufel tötet sie ihren besten, ihren einzigen echten Freund?

      »Du kannst mich jetzt loslassen«, murmelt sie in diesem Augenblick.

      »Ich glaube, er ist tot.«

      Ihre Stimme, einst so zart und sinnlich, klingt wie die einer Hexe, boshaft, krächzend und gemein.

      Ein eisiger Schauer fließt meinen Rücken herunter. Wie kann sie bloß so kalt sein, so berechnend und rücksichtslos.

      »Was ist nur mit dir geschehen?«, zische ich in ihr Ohr und packe ihre Oberarme fester, ziehe sie enger an mich heran.

      Natascha dreht den Kopf ein wenig zur Seite, sie lächelt.

      »Lass mich los, Nicki, bitte.«

      Ich kann sie nur anstarren.

      Weder habe ich gemerkt, dass sich meinen Griff lockert, noch es gewollt. Aber die kleine Schwarzhaarige dreht sich blitzschnell um und steht plötzlich vor mir.

      Trotz allem, was sie in den letzten Minuten getan hat, bin ich gebannt von ihren schwarzen, seelenlosen Augen, die mich fixieren. Ihre Stimme, die aus den tiefsten Abgründen der Hölle zu kommen scheint, reizt mich, es juckt mich förmlich in den Fingern. Ein Kribbeln breitet sich über meinen gesamten Körper aus, lässt mich nach Luft schnappen und meine Hände mehrmals zu Fäusten ballen.

      Natascha lächelt, ein überaus hämisches Grinsen entfaltet sich auf ihrem sonst so hübschen Gesicht.

      Bevor ich etwas sagen oder gar tun kann, krächzt sie:

      »Willst du mich gerne beißen und mein Blut trinken?«

      Ich zucke erschrocken zurück.

      Nicht nur, weil sie im Angesicht ihrer Taten einfach solche Worte ausspricht.

      Es ist leider auch … die Wahrheit.

      Ich würde jetzt nichts lieber geschehen lassen.

      In Sekundenbruchteilen sehe ich es vor meinen Augen ablaufen:

      Ich reiße sie an mich, schlage ihr meine Zähne in den Hals. Gierig trinke ich ihr Blut, das mir köstlich entgegen sprudelt, sauge es in mich auf.

      Unkontrolliert und gierig beginne ich, zu keuchen.

      Ihr Grinsen wird eine Spur breiter, sie tritt noch näher an mich heran. Ich kann sie riechen, nehme ihren herrlichen Duft in mich auf. Der hat schon immer eine magische Anziehung auf mich ausgeübt. Nie habe ich verstanden, wie Ansgar es aushielt, mit ihr zusammen zu sein, ohne pausenlos über sie herzufallen. Das war mir schon immer ein Rätsel.

      Ihr Duft lockt mich, scheint über meine kalte Haut zu streichen, will mich verführen. Als wenn dazu so viel nötig wäre. Ich bin ein leichtes Opfer, ich fühle bereits, wie meine Gegenwehr erlahmt. Wie ich alles, was sie sagt, zulassen will, es einfach geschehen lasse.

      Egal, was es auch sein mag.

      Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, drängt sich an mich heran. Ihre Hände streichen um meine Taille, meinen Rücken hinauf.

      Fast zärtlich legen sich ihre Finger auf meine Schulterblätter. Durch das dünne T-Shirt fühle ich die Kälte, die von ihrer Haut ausgeht.

      Grob packe ich sie an den Schultern, schüttele sie kurz.

      »Was zur Hölle hast du vor?«

      Sie nähert sich meinem Gesicht, streicht sich mit der Zunge flüchtig über die vollen, roten Lippen. Eine sinnliche Geste, die mein Blut in Wallung bringt, es buchstäblich kochen lässt.

      Mein Griff wird fester, brutal. Fast erwarte ich, jeden Moment ihre Knochen brechen zu hören.

      »Küss mich, Nicki«, wispert sie.

      Natascha steht so nahe vor mir, dass ihre Augen groß und rund erscheinen. Mich anleuchten, wie der Vollmond in einer sternenklaren Nacht, ein Mond direkt aus der Hölle, schwarz und tot.

      Mein Blick wandert über die feinen Gesichtszüge, bis hinab zu ihrem Mund. Sie spitzt die Lippen, pustet mir ihren Atem entgegen. Er streicht wie eine leichte Brise über mein Gesicht, die feinen Haare richten sich auf.

      Ein mörderischer Schauer jagt den Nächsten. Ich kann einfach nicht mehr widerstehen, keine Gegenwehr, kein schlechtes Gewissen.

      Ich umarme sie, meine Lippen nähern sich ihren.

      »Wirst du mich ebenso erschießen?«, frage ich knurrend und bin doch schon ein Gefangener ihrer Verführung.

      »Nein, mit dir habe ich etwas anderes vor.«

      Ihre Antwort ist mir gleichgültig, selbst wenn sie auf meine Frage mit Ja geantwortet hätte, würde ich nicht umkehren. Ich habe meinen Fuß auf diesen unbekannten, dunklen Weg gesetzt, nun ist es an der Zeit, den ersten Schritt zu wagen.

      Wo wird er mich hinführen? In welchen tiefen Pfaden der Hölle endet dieser Weg?

      Laut stöhne ich auf, als unsere Lippen sich treffen.

      Ich küsse sie, gierig, hungrig und wild.

      Sie erwidert meinen Kuss.

      Endlich. Wie lange habe ich schon darauf gewartet? Ich weiß es nicht mehr, aber es kommt mir vor, als sei es eine Ewigkeit, wie mein ganzes verdammtes Leben.

      Keuchend löse ich mich von ihr, streichele mit meinem Mund ihr Gesicht, küsse ihren Hals.

      »Ja«, stöhnt sie voller Lust, »beiß mich.«

      Ich zögere nur einen Atemzug, meine Augen wandern von ihrer reinen, weißen Haut, vorbei zu Josh. Er liegt noch auf dem Boden, blutend und gezeichnet.

      Erschossen mit meiner Waffe durch ihre Hand.

      Ich fühle, dass er mir egal ist, alles ist mir völlig gleichgültig. Selbst wenn sich die Welt entscheiden würde, jetzt in dieser Sekunde einfach mit einem lauten Knall zu verpuffen … es interessiert mich nicht.

      Zart beiße ich sie in den Hals, sie stöhnt erneut auf. Mein Biss wird fester, voller Verlangen.

      »Ja, tu es«, fordert sie meine Beherrschung heraus.

      Als wenn ich dazu eine Aufforderung brauche.

      Langsam, Stück für Stück treibe ich meine spitzen Zähne in ihre Haut. Ich will, dass es ihr Schmerzen bereitet, dass es richtig wehtut. Sie soll endlich etwas spüren, Gefühle zeigen. Es darf nicht nur diese Dunkelheit in ihr existieren. Tief verborgen muss noch etwas anderes da sein. Die Natascha, in die mein Bruder Ansgar so verliebt war, die Vampirin, die auch ich begehrte.

      »Ah-h.« Ihr leiser Ruf, voller Schmerz, ist Musik in meinen Ohren und lässt mir einen wohligen Schauer über den Rücken fließen.