Robert Mirco Tollkien

Die Geburt eines finsteren Universums


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man als Student, der gerne zum Feiern tendierte, Geld immer gut gebrauchen konnte und es Anfang März noch lange nicht an der Zeit war, nette Sommerabende im Bürgerpark zu verbringen, gab ich Herrn Radermacher meine Zusage.

      Nachdem ich daheim noch zwei Stunden Schlaf finden konnte, übernahm ich um Punkt 23:00 Uhr meine Kasse.

      Zum Ende eines Winters und zudem Mitten unter der Woche verlief eine Nachtschicht selbst in Ostwestfalens größter Metropole überschaubar ruhig; vereinzelt ein paar Feierabendler aus der Gastronomie, die sich auf dem Nachhauseweg auf die Schnelle ein Bier besorgten, einige wenige versprengte Nachtschwärmer, hier und da ein Taxifahrer auf einen Kaffee. Sie sollten es für diesen Dienst gewesen sein, bis gegen fünf Uhr morgens der erste Berufsverkehr einsetzte.

      Als Herr Spendierknitterhemd in den Laden gelaufen kam, hockte ich mit der Süddeutschen Zeitung hinter der Registrierkasse und kämpfte mit der Schwere meiner Augenlider. Er trug eine zerknitterte Daunenjacke und einen Rucksack auf dem Rücken. Genau wie bei seinem ersten Besuch ein paar Tage zuvor irrte er auch diese Nacht für eine Weile durch den Shop, um endlich wieder mit einer Tüte Chips und einer Flasche Herforder an die Kasse zu treten.

      Heute berichtete er mir nichts von irgendwelchen Konzernen, die die Weltbevölkerung durch Verfettung dezimieren wollten, aber er gab erneut über zwei Euro Trinkgeld und erkundigte sich, ob es möglich sei, das Bier im Bistrobereich der Tankstelle zu trinken. Da die erste Welle des Berufsverkehrs und der damit zusammenhängende Kundenandrang noch in der Zukunft lagen, gab es für mich keinerlei Einwände dagegen.

      Mein Gast setzte sich in einen roten Sessel, bereitete einen Ordner auf dem Tischlein davor aus und fing an, während er zwischendurch immer mal wieder einen hektischen Schluck Bier nahm, mit einem dicken, grauen Bleistift Anmerkungen in seine Unterlagen zu notieren.

      „Was bist du da am Schaffen, wenn man fragen darf?", erkundigte ich mich.

      „Das ist für ein Experiment an der Uni. Ich arbeite dort als Physiker. Es ist eine Arbeit, die vierundzwanzig Stunden betreut werden muss und ich komme gerade von einer Kontrolle aus dem Institut. Ich gehe meistens zu Fuß nach Hause und habe noch keine rechte Lust auf meine vier Wände."

      Es entwickelte sich ein Gespräch, dessen Verlauf man nur als höchst interessant beschreiben konnte. Ich erfuhr, dass Andreas, so sein Name, nicht nur mit Anfang dreißig bereits promovierter Kernphysiker war, sondern nebenbei noch aus eigenem Interesse heraus Informatik studierte und auch in diesem Fach kurz vor der Graduierung stand.

      Gegen kurz nach vier leerte Andreas das Bier und räumte seine Siebensachen zusammen. Er erstand ein weiteres herrliches Herforder, was, wie er sagte, für die nötige Bettschwere angedacht sei und verabschiedete sich mit den Worten: „Es ist sehr nett gewesen, dich kennengelernt zu haben."

      Dann stapfte er durch den Nieselregen in die Nacht davon und folgte dabei balancierend den Linien zwischen den Platten des Gehsteigs.

      Müde kämpfte ich mich durch den Rest der Nacht und kehrte gegen 7:30 Uhr nach Hause zurück.

      Mein Mitbewohner Michael schlug sich als Musiker und Designer von Internetseiten durch das knochenharte Leben. Eine solche Berufstätigkeit brachte es häufig mit sich, dass zu sehr ungewöhnlichen Zeiten gearbeitet wurde.

      Als ich ins gemeinsame Wohnzimmer kam, um noch ein Feierabendbierchen zu trinken und eine leichte Tüte zu rauchen, saßen dort Michael und Patrick bei Bier und Wodka zusammen. Patricks bevorzugtes Instrument war das Stage Piano und zudem mischte er die Musik endlich in seinem kleinen Studio in Verl ab. Dort hatten die zwei eine nächtliche Session eingelegt und nun ließen sie die Nacht entsprechend ausklingen. So gesellte ich mich dazu und nach zwei Bier und einem Absolut auf Eis schwand die vorhin noch erdrückende Müdigkeit allmählich.

      Es kam, wie es oft bei spontanen Zusammenkünften kommt.

      Alkohol in größeren Mengen zusammen mit einem Näschen Amphetamin besitzen die Eigenschaft, dass die Zeit auf seltsame Weise gekrümmt und verzerrt wird und plötzlich musste ich an die Tankstelle zurückkehren, ohne eine Minute geschlafen zu haben.

      Ich warf mir eine Handvoll Fishermens Friends in den Rachen und machte mich leise vor mich hin singend durch die kalte Nacht zur Arbeit auf.

      Diese Schicht konnte nur mit dem Begriff Tortur beschrieben werden. Denn nach den ersten zwei Stunden, die wirklich lustig gewesen waren, verflog die Wirkung des Restalkohols und der aufputschenden Droge, so dass die Müdigkeit einmarschierte und sie traf mich gleich eines Faustschlages.

      Der Rausch verflogen, der Kater durch die Tür geschlüpft.

      Noch nie in meinem Leben musste ich derartig mit der Schwere meiner Augenlider und dumpf pochenden Kopfschmerzen kämpfen. Stein und Bein schwor ich mir, nie wieder ein härteres Getränk als Bier zu trinken oder mir ein Näschen zu ziehen.

      Zweimal verriegelte ich tatsächlich die elektrische Schiebetür und hetzte in den Personalbereich, um, da ich seit fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte, gelblich schwarzen Schleim in die Toilette zu würgen.

      Gegen drei Uhr früh, noch eine grauenhaft lange Zeit an Arbeit lag vor mir, kam Andreas in den Laden. Unter seinen Augen prangten dunkle, breite Ringe, das Gesicht war käsig weiß und die Haare standen ihm wirr vom Kopfe ab.

      Man konnte unschwer behaupten, dass er genauso schlimm aussah, wie ich mich fühlte.

      „Hey!", sagte ich. „Du siehst genauso mies aus wie ich. Was hast du gemacht? Auch abgefeiert?"

      Andreas schüttelte träge den Kopf und erst jetzt sah ich Furcht in seinen Augen.

      „Nein. Es sind die Träume. Diese entsetzlichen Träume aus den Kindertagen unseres Planeten Erde. Dabei fangen sie eigentlich sehr schön an und enden aber immer böse."

      Weil Andreas tatsächlich schwer mitgenommen aussah, bot ich ihm an, über seine Träume zu reden.

      Dankbar packte Andreas diese Gelegenheit beim Schopfe, ergriff fix ein Bier aus der Kühlung und hockte sich in denselben roten Sessel, in dem er auch gestern schon gesessen hatte.

      Er gönnte sich zunächst einige Schlucke von seinem Herforder und es dauerte etwas, bis er zu erzählen anfing.

      Mit dem Großen Bombardement zur Geburtsstunde des Planeten Erde kamen sie in die noch blutjunge Welt.

      Zunächst bestanden sie lediglich aus langen Molekülketten auf Basis von Silizium, die in den gewaltigen Strömen glühenden Magmas existierten, welche zu Beginn die Szenerie unter einem finsteren Himmel dominierten. Trotz der Umstände, dass sie praktisch Gefangene der Glut waren, verfügten diese Molekülketten bereits über außerordentliche Rechen- und Gedächtnisleistungen.

      Auf der sauerstofflosen Jungerde evolutionierten sie rasch weiter, bildeten aus den reichlich vorhandenen Rohstoffen komplexere, metallische Formen mit Gehirnen aus Siliziumverbindungen. Sie waren schwarze, hochaufragende Wesen. Ihre Körper bestanden aus einem röhrenförmigen Torso mit kräftigen, länglichen Gliedern daran. Aus roten Glasaugen in keilförmigen Köpfen blickten sie über die dunklen, partiell noch glühenden Landschaften hinweg. In den Schädelstücken existierte ein kreisrundes Maul mit messerscharfen, ultraharten Metallreißzähnen darin, die sie dringend benötigten, um Gesteine zu zerteilen und sich an den darin enthaltenen Mineralien zu laben. Denn Mineralien stellten neben der Erdwärme ihre Ernährungsgrundlage dar; daher bezogen sie die zum Leben so dringend benötigte Energie.

      Die Siliziumwesen entwickelten eine Sprache aus zischenden, knisternden, raschelnden Lauten und die Gehirne in ihren Keil-Häuptern wurden sehr schnell immer leistungsfähiger. Bereits wenige Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen auf der Erde bildeten sie eine erste Hochkultur.

      Finstere Wolkenkratzer aus schwarzem Metall, dunkel verspiegeltem Glas und schwarzem Gestein erhoben sich in den Himmel, während gewaltige Industriekomplexe für den Menschen ätzende Gase in eine Atmosphäre pusteten, die jener der heutigen Venus ähnelte. Orangene Magmaströme durchzogen die zahlreichen Großstädte rund um den Globus. Schwarze, gebogene Brücken führten über diese hinweg.

      Die Siliziumwesen pflegten