Robert Mirco Tollkien

Die Geburt eines finsteren Universums


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einem Kopfsprung in den Ozean der Träume eingetaucht.

       Die sanfte Stimme des Radiosprechers gehört mit all ihren Melodien nun einem kleinen Mann in schwarzem Frack und einer Melone über dem Mondgesicht, der mir sagt: „Willkommen in Argentinien! Das Pyramidenwesen, was die armen Kerle da umgebracht hat, wird bald in die Welt geboren. Der 11. September ist gar nicht dagegen. Bald ist es soweit. Frag` den Stein da, wenn du mir nicht glaubst."

       Zum Abschied tippt er sich an die Melone und marschiert an dem Findling vorbei, der nun nicht mehr zwischen Tankstelle und Straße liegt, sondern unter strömendem Regen in einer finsteren Landschaft. Sie besteht überwiegend aus Gräsern und im Hintergrund türmen sich dunkle Berge auf, scheinen an den schwarz–grauen Wolken förmlich zu kratzen.

       Die Sonne ist urplötzlich aufgegangen und hat die dreifache Größe, wie man sie von der Erde aus sehen kann. Sie knallt auf eine Szenerie bestehend aus grauen Kratern und kahlen, grauen Bergen hinab, lässt die Umwelt förmlich erglühen. Im grellen Licht steht der sechs Jahre ältere Boris Alexander Hermes in Closed Jeans und einem gelben Iceberg Pullover, den Donald Duck ziert. Seine schwarzen Haare sind streng nach hinten frisiert und er mustert mich durch eine Brille von Oliver Peoples. Mit ihm verbrachte ich eine kurze Zeit in meiner alten, hessischen Heimat. Boris großer Traum ist es bis heute, eines Tages zu den oberen Zehntausend zu gehören und ein Duzfreund von Boris Becker und Donald Trump zu werden. Früher zahlte seine Mutter, eine selbstständige Reiseverkehrskauffrau, für den Schein ihres Sohnes. Sie verhätschelte ihn. Dann, nach dem Fachabitur, verdiente er mit Kettenbriefen und schmieriger Telefonakquise sein Geld und heute, das ist der letzte Stand meines Wissens, ist er Betreiber einer recht zwielichtigen Kontaktbörse im Internet.

      „Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe, aber mein Bruder und ich haben noch den Boris in Wimbledon geschaut. Es ist schön, dass du auf dem Merkur vorbeischaust. Du musst da runtergehen!“, spricht er und versucht von der Stimme her Boris Becker zu imitieren, während sein Arm mit der goldenen Rolex am Handgelenk über die glühende Landschaft weist. „Es gibt hier viel zu entdecken. Doch es kommt immer anders, als man denkt. Zeit spielt keine Rolle. Die Zeit, die du kennst, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Und deshalb konnte geschehen, was geschah und geschehen wird. Deshalb richtete das Pyramidenwesen sein Unheil an, obwohl es noch längst nicht geboren wurde. Frag den Typen von Alpha Centauri, wenn du mir nicht glaubst, oder deinen neuen Freund Andreas. Aber am allerbesten stellst du diese Frage ins Große Kosmische Netz hinein! Ich hoffe, du hast eine Jacke dabei? Denn des nachts wird es auf dem Merkur sehr, sehr kalt! Wann gehen wir mal wieder in den Club Elfenbein zusammen?“

       Boris verschwindet, zerplatzt wie eine Seifenblase.

       Obwohl es auf dem Merkur kaum Atmosphäre gibt, die Schall transportieren kann, rasselt es hinter mir metallisch. Ich drehe mich um und sehe die Spitze einer Pyramide auf meine Nase zeigen. Auf der Pyramide gibt es einen silbernen Schnabel voller blitzender Reißzähne darin und weiter oben zum quadratischen Ende hin glimmt ein Streifen in Scharlachrot, pulsiert im Rhythmus eines unheilvollen Herzschlages. Der Schnabel fängt zu rotieren an. Das Gebiss wird mich in Fetzten reißen!

       Ich spüre die kalte Hand der Furcht in meinen Eingeweiden, den Angstschweiß auf meiner Haut. Ich möchte weglaufen, aber eine Ganzkörperlähmung hat mich befallen. Mein Mund öffnet sich zum finalen Todesschrei...

      Ich erwachte und wusste zunächst nicht genau, welcher Ort sich um mich herum befand.

      Draußen, vor den Vorhängen des Fensters war es bereits dunkel und die leuchtenden Ziffern des Radioweckers zeigten 20:12 Uhr an.

      Der Schlaf nach vielen Stunden der Schlaflosigkeit hatte beinahe zwölf Stunden gedauert.

      Im Radio, das noch immer leise lief, verlas ein Sprecher die Nachrichten vom Tage und aus dem Wohnzimmer drang gedämpfte Rockmusik durch die geschlossene Zimmertür. Unüberhörbar entstammte sie der Feder meines Mitbewohners. Nun durchforstete er die dynamische Komposition durch wiederholtes Probehören nach Verbesserungsmöglichkeiten. Immer wieder stoppte er eine bestimmte Passage, fuhr sie zurück, um sie erneut gar streng unter die Ohren zu nehmen.

      Nun erst wusste ich, dass ich mich hundertprozentig daheim, in Sicherheit und nicht in der glühenden Landschaft des Merkurs befand, und einer schwebenden, schwarzen Pyramide gegenüberstand, welche im Begriff war, mich zu Hackfleisch zu verarbeiten.

       Der Traum! Du musst ihn aufschreiben, sonst hast du ihn vergessen, bevor du gleich unter der Dusche stehst! Und ist es außerdem nicht schön, wieder vollkommen klar und ohne Kater zu sein!

      Und so setzte ich mich mit Papier und Lamy–Füllhalter, der gleiche, mit dem vor beinahe sieben Jahren die Abiturklausuren erfolgreich absolviert worden waren, an den Schreibtisch und schrieb im Schein der Schreibtischlampe den bislang wohl seltsamsten Traum meines Lebens nieder.

      Heute stand die letzte Nachtschicht auf dem Programm und nach dem Duschen blieb mir noch eine gute Stunde, bis ich mich auf den Weg zur Arbeit machen musste.

      Bei einer kräftigen Tasse Ceylon Assam-Tee berichtete ich im Wohnzimmer Michael, der mit Mischpult und PC–Musikprogrammen vor zwei 17 Zoll-Monitoren hantierte, von dem komischen Vogel Andreas, dessen und meinen Träumen.

      „Lad` den Typen doch mal ein. Deiner Beschreibung nach passt er ganz ausgezeichnet in unsere WG.", kommentierte er, worauf wir beide lachten.

      Kapitel 4

      Es sollte jedoch ein wenig Wasser die größeren und kleineren Ströme Ostwestfalens herunterfließen, bis sich die Wege von Andreas und mir wieder kreuzen sollten.

      Von meiner Arbeitsstelle aus sah ich ihn manchmal durch die Schaufenster, während er mit dem Aktenkoffer am langen Arm und einem Rucksack auf dem Rücken an der Tankstelle vorbeilief, selbstverständlich stets dabei den Linien zwischen den Bodenplatten folgend.

      Eines Sonntags, ich hatte eine jener unsäglichen Frühschichten erwischt, während der man es hauptsächlich mit Brötchen kaufenden Rentnern und tankenden Ausflüglern zu tun bekam, stapfte Andreas beinahe entschuldigend dreinschauend in den Shop hinein. Immer mal wieder blickte er ängstlich zu meinem Kollegen an der zweiten Kasse herüber. Er erwarb ein Päckchen Drehtabak, Filter und Papier dazu und fragte mich leise, ob ich kurz Zeit habe, vor der Station mit ihm eine zu rauchen.

      In der Erwartung, wieder die Geschichte eines schaurigen Traumes erzählt zu bekommen, verließen wir gemeinsam die Station, um an dem großen Aschenbecher vor dem Bistrobereich eine zu qualmen. Da ich normalerweise nur am Abend mein Tütchen rauchte, ließ mich diese Zigarette am frühen Morgen leicht schwindeln.

      Es täte ihm leid, dass er mich mit seinen kindlichen Alpträumen belästigt habe. Er würde so was nie wieder tun. Viele, viele Male Entschuldigung.

      Er schaute mich an wie ein kleiner Junge, den man beim Doktorspielen mit seinem besten Freund erwischt hatte.

      Meine Antwort lautete, dass er sich keinen Kopf zu machen brauche. Im Gegenteil. Seine Traumgeschichte sei überaus kurzweilig und interessant gewesen und habe bei mir einen ebenfalls äußerst skurrilen, jedoch auch extrem unheimlichen Traum ausgelöst. Ob er nicht mal Lust verspüre, in die Wohngemeinschaft auf ein zwangloses Treffen zu kommen?

      Nun schaute er fröhlich drein, ähnlich einem Kind, welches sein absolutes Wunschgeschenk unter dem Weihnachtsbaum entdeckt.

      „Ja, super! Da freue ich mich doch sehr!", jubelte Andreas.

      Wir tauschten die Mobilfunkrufnummern aus und freudestrahlend trabte er von dannen.

      Kapitel 5

      Eine Woche später holte mich Andreas an einem Samstagabend um 22:00 Uhr zum Dienstschluss einer Spätschicht an der Tankstelle ab.

      Wir verlebten einen herrlichen Abend im Wohnzimmer der WG bei Musik der Doors, Pink Floyds und der Rolling Stones, wobei es Pils aus der Flasche