Peter Wolff

Im Bann von covid-19


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die Börsen ein, sinkt weltweit die Wirtschaftsleistung, steigt die Arbeitslosigkeit, und zahlreiche Staaten bitten um internationale Kredithilfe.

      Die Corona-Wirtschaftskrise, auch Corona-Rezession genannt, hält die Welt im Griff. DIHK-Präsident Eric Schweitzer warnt vor wirtschaftlichen „Schäden von historischem Ausmaß“ (53).

      Anfang April 2020 dürfen rund ein Drittel der Beschäftigten weltweit nicht mehr arbeiten.

      Der IWF erwartet „vermutlich die schlimmste Rezession seit der Großen Depression in den 1930er Jahren“. Die Krise sei „wie keine andere bisher.“ Die Weltwirtschaft werde 2020 um etwa 3% schrumpfen (54).

      Gründe genug eigentlich, um alles dafür zu tun, um einen zweiten Lockdown unter allen Umständen zu verhindern. Aber die weltweiten Corona-Maßnahmen reichen nicht aus, um das Virus entscheidend einzudämmen. Nach einer vorübergehenden Beruhigung in den Sommermonaten, steigt die Zahl der Neuinfektionen im Herbst 2020 wieder dramatisch an, die Welt befindet sich in einer zweiten Welle der Pandemie.

      Am 28. Oktober startet die Bundesregierung den zweiten Versuch, mittels eines Lockdowns das Corona-Geschehen in den Griff zu bekommen. An diesem Tag beklagt Deutschland 14964 Neuinfektionen, 464239 bestätigte Fälle und 10183 Todesfälle. Der R-Wert liegt bei 1,17 (55).

      Die Situation ist also noch um einiges prekärer als jene, die im März Anlass zum ersten Lockdown war. Trotzdem fallen die Beschränkungen, die Verbote der politischen Entscheidungsträger, dieses Mal glimpflicher aus, ein „Lockdown light“ wird ausgerufen, der Einzelhandel darf weiter seine Geschäfte offenhalten, Schulen und Kitas werden dieses Mal nicht geschlossen. Ein Stufenplan, der recht komplex und für viele Menschen in unserem Lande nur schwer nachvollziehbar ist, tritt in Kraft.

      Da fragt man sich unweigerlich: Alles diesmal nur halb so schlimm?

      Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Merkel. Söder und Co. dem zunehmenden Druck aus Bevölkerung und Wirtschaft beugen. Jetzt, wo, bedingt durch die zunehmenden Lockerungen und die neuen, aggressiveren Virusmutationen die Zahl der Neuinfektionen und die 7-Tage-Inzidenz wieder leicht ansteigen, werden, wenn auch von mehreren Landesvätern offenkundig nur widerwillig, erste Fesseln gelöst.

      Dass der ein' oder andere die Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung, so nötig sie auch sein mögen, mehr als kritisch sieht, wird zunehmend nachvollziehbar.

      Es hat den Anschein, als wäre in Deutschland nicht früh, nicht konsequent genug gehandelt worden.

      Wäre man im Frühjahr ein wenig rigider gewesen, ginge es unserem Land im Frühjahr 2021 womöglich um einiges besser.

      Die Ansicht, dass es besser gewesen wäre, direkt für einen längeren Zeitraum „alles dicht“ zu machen, anstatt die Bevölkerung durch stets von neuem verlängerte Lockdown-Perioden einem monatelangen Wechselbad zwischen Hoffnung und Ernüchterung auszusetzen, darf man durchaus vertreten.

      Die Kanzlerin hätte einen von Beginn an längeren Lockdown dem Vernehmen nach wohl bevorzugt, die Länderminister lehnen dies infolge der unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten jedoch ab.

      Auch fragt sich manch einer: Ist das, was die Staatsoberen da beschließen, wirklich geeignet, um das Ziel zu erreichen? Sind die Gebote und Verbote in sich stimmig?

      Vielleicht sollten die „Corona-Entscheider“ hier und da noch einmal nachjustieren. Denn die Akzeptanz von Maßnahmen, die nicht ausgewogen erscheinen, ist in der Bevölkerung erfahrungsgemäß durchaus überschaubar.

      Möglicherweise liegt der eigentliche Sinn des "Lockdowns" letztlich auch nicht allein darin, das Virus zu bekämpfen, sondern zudem darin, die Krise wieder für jedermann sichtbar zu machen.

      Denn die Angst vor Corona hat Umfragen zufolge in den Sommermonaten deutlich nachgelassen.

      Die Langzeit-Studie „Cosmos“ von Uni Erfurt und Robert Koch-Institut aus dem Oktober 2020 zeigt, das "gefühlte Risiko" sei der wichtigste Anhaltspunkt dafür, ob und wie diszipliniert sich Menschen an Corona-Regeln halten (56).

      Geschlossene Kneipen könnten dieses Risikobewusstsein möglicherweise steigern.

      Nicht vergessen sollte man bei aller Kritik am Lockdown aber auch, dass wir im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn noch ziemlich gut dastehen.

      Bayern Ministerpräsident Söder wird nicht müde zu betonen, dass wir uns anno November 2020 durchaus glücklich schätzen dürfen, weil wir uns in Deutschland im November 2020 im „mildesten Lockdown, den es derzeit in Europa gibt“, befinden (57).

      Die fürchterlichen Impressionen aus anderen Teilen der Welt haben wir wohl alle noch im Kopf. Glück im Unglück sozusagen. Wir tun gut daran, uns dies regelmäßig ins Bewusstsein zu rufen.

      Tun wir das nicht, indem wir die Corona-Verhaltensregeln ignorieren oder vernachlässigen, kann es schnell dazu kommen, dass das, was so „weit weg“ scheint, schon bald unsere eigene tagtägliche Realität wird.

      09 - Corona-Maßnahmen und das Grundgesetz

      „Das Wichtigste ist die Gesundheit. Danach kommen soziale Sicherheit und Arbeitsplätze“

       (Hubertus Heil. *03.11.1972, Bundesminister für Arbeit und Soziales, im März 2020)

      Wissenschaftler und Ärzte sind sich einig, dass nur die Minimierung von Kontakten die zunehmende Verbreitung des Erregers Covid-19 bremsen kann.

      Die im Rahmen der Corona-Pandemie beschlossenen Maßnahmen der Bundesregierung haben somit ein klares wissenschaftliches Fundament: Es geht darum, für eine bestimmte Zeit die Kontakte zwischen den Menschen herunterzufahren. Denn dann sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Infektion.

      “Ohne solche Beschränkungen würde das weitere exponentielle Wachstum der Infiziertenzahlen unweigerlich binnen weniger Wochen zu einer Überforderung des Gesundheitssystems führen und die Zahl der schweren Verläufe und der Todesfälle würde erheblich ansteigen“, heißt es im Bund-Länder-Beschluss vom 28.10.2020.

      Sich an bestimmte Regeln zu halten, um die Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll sein – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das krank gesparte Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann.

      Dennoch: Es hat, seit das Grundgesetz in Kraft getreten ist, noch nie so starke Grundrechtseinschränkungen gegeben wie es jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie der Fall ist.

      Und darum macht es Sinn, die gegenwärtige Situation im Gefolge des Corona-Virus kritisch zu hinterfragen sowie im Hinblick auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit zu evaluieren.

      Dann mal los: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt in der deutschen Gesetzgebung eine bedeutende Rolle. Als allgemeines Abwägungsprinzip besagt er:

      „Kollidierende Interessen, Freiheiten oder Rechtsprinzipien werden nur dann in ein angemessenes Verhältnis zueinander gesetzt, wenn und soweit das zu wahrende Interesse, Freiheitsrecht oder Rechtsprinzip schwerer wiegt als das ihm aufgeopferte“ (58).

      Verhältnismäßig, das heißt im Juristendeutsch: Ein staatlicher Eingriff in ein Grundrecht ist nur erforderlich, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht, das den Zweck ebenso erfüllt und den Betroffenen weniger schädigt.

      Einfacher gesagt: In eine Waagschale der Justitia werden das Corona-Virus, die Ansteckungsgefahr für die gesamte Bevölkerung und das Risiko des Zusammenbruchs des Gesundheitswesens gelegt, in die andere die beeinträchtigten Freiheitsrechte und die Existenzgefahr für den demokratischen Rechtsstaat (59).

      Verhältnismäßigkeit verlangt, dass jede Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgt.

      Überdies muss die Maßnahme geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn, also angemessen sein.