Peter Wolff

Im Bann von covid-19


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eines Industrie-betriebes etwa ist der Einbau einer Rauchgasreinigungsanlage oder die Schließung des Betriebes möglich. Nicht geeignet dagegen wäre die Schließung des Unternehmensparkplatzes.

       Die Maßnahme ist erforderlich, wenn kein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung steht, genauer: wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher (oder sogar besserer) Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger belastet. Die Schließung des Betriebs aus dem obigen Beispiel ist daher in der Regel nicht erforderlich, weil die Verminderung des Schadstoffausstoßes auch durch die Rauchgasreinigung erreicht werden kann.

      Der Grundsatz der Angemessenheit besagt, dass eine Maßnahme nur dann verhältnismäßig im engeren Sinn ist, wenn die Nachteile, die mit der Maßnahme verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie bewirkt.

      An dieser Stelle ist eine Abwägung sämtlicher Vor- und Nachteile der Maßnahme vorzunehmen. Dabei sind vor allem verfassungsrechtliche Vorgaben, insbesondere Grundrechte zu berücksichtigen.

      Geht es beispielsweise um die Frage, ob zur Bekämpfung schwerer Bandenkriminalität die Videoüberwachung von Wohnräumen zugelassen werden soll, ist vor allem das Grundrecht des Überwachten auf Unverletzlichkeit seiner Wohnung gegen das Interesse der Allgemeinheit an der Erhaltung und Verteidigung der Rechtsordnung abzuwägen (60).

      Als rechtsstaatliches Prinzip ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für jede hoheitliche Gewalt verbindlich. Er gilt grundsätzlich im Verfassungsrecht im ganzen Bereich des öffentlichen Rechtes, im Strafrecht sowohl auf der Normebene (Strafbewehrung, Strafmaß) als auch hinsichtlich der Strafverfolgung (Ermittlungsverfahren) und des Straferkenntnisses sowie bei Verbraucherschutzrechten. In vielen dieser Bereiche gilt es als ungeschriebene Voraussetzung (61).

      Eine Maßnahme, die den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht entspricht, ist rechtswidrig.

      Wie sieht es nun mit den Corona-Beschränkungen vor dem Hintergrund der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aus? Halten die Maßnahmen, die die Bundesregierung im Frühjahr und Herbst des Jahres 2020 ergriffen hat, einer Überprüfung der drei Bedingungen stand?

      Mit anderen Worten: Sind die in Deutschland geltenden Corona-Regeln geeignet, um das Ziel, die Infektionszahlen zu reduzieren, zu erreichen?

      Die Antwort auf diese Frage ist relativ einfach. Dass die Reduzierung sozialer Kontakte, dass Distanz zwischen potenziell infizierten und gesunden Menschen tendenziell Neuinfektionen entgegenwirkt – wer wollte das bestreiten? Zumal vor dem Hintergrund, dass es schlicht und ergreifend keine anderen Maßnahmen, keine vorbeugenden Impfungen und bislang auch keine Medikamente gegen den Erreger gibt.

      Zudem wissen wir noch längst nicht alles über den Verlauf der Krankheit, über die Frage einer Immunität ehemaliger Betroffener und abschließend auch noch nicht darüber, ob man sich ein zweites Mal anstecken kann. Leider erhärtet sich der Verdacht, dass dies, entgegen erster Vermutungen, in manchen Fällen doch möglich ist (siehe Kapitel 04).

      Kommen wir also nun zu der Frage: Sind die Corona-Maßnahmen angemessen? Hier sind vor allem die Grundrechte der Bürger von Bedeutung. Greifen Corona-Maßnahmen also in die Grundrechte ein?

      Im Grundgesetz, das 1949 erlassen wurde, sind die Grundrechte, die Regeln für unser Zusammenleben, aufgeführt. Im Mittelpunkt der Grundrechte steht der Mensch. Die Grundrechte schützen die Menschenwürde und das Recht auf Leben aller Menschen.

      Das Grundgesetz beschreibt die wichtigsten Regeln für den Staat, es grenzt dessen Macht ein und formuliert Bürger- und Freiheitsrechte.

      Auch bei einer schweren Krise wie der Corona-Pandemie muss der Staat sich an das Grundgesetz halten und die Grundrechte seiner Bürger schützen.

      Es kann kein Zweifel bestehen - die uns auferlegten Regeln in der Corona-Krise schränken teilweise unsere Grundrechte ein.

      Nehmen wir das Recht auf Freizügigkeit (Art.11 GG), gleichbedeutend damit, dass man sich auch außerhalb der eigenen Wohnung bewegen kann, wohin man will.

      Angesichts der bundesweiten „Lockdowns“ wird beschlossen, dass die Menschen nicht mehr überall hinfahren dürfen. Urlaub an der Nordsee – vorübergehend gestrichen. Auch Grenzen zu anderen Ländern werden geschlossen. Das Grundrecht auf Freizügigkeit ist damit eingeschränkt.

      Der Freiheit der Person (Art.2 GG) sind deutliche Grenzen gesetzt, wenn infizierte Personen 14 Tage Haus oder Wohnung nicht verlassen dürfen und in Quarantäne müssen.

      Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) ist nicht mehr gewährleistet, wenn Wohnungen von infizierten Personen vom Amtsarzt unter bestimmten Umständen ungefragt betreten werden dürfen.

      In Art.2 GG ist das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit beschrieben. Wenn viele Dinge im Alltag - Kinos, Museen, Theater, Schwimmbäder und viele weitere Einrichtungen sind geschlossen - nicht mehr möglich sind, sind der freien Entfaltung der Persönlichkeit Grenzen gesetzt.

      Das Grundrecht auf freie Religionsausübung (Art.4 GG) ist tangiert, wenn religiöse Stätten vorübergehend geschlossen bleiben.

      Nicht zuletzt wird auch das Recht auf Berufsfreiheit (Art.12 GG) tangiert: Während der Lockdowns müssen viele Geschäfte und alle Gaststätten sowie Bühnen schließen. Somit können die in diesen Wirtschaftseinheiten beschäftigten Personen staatsverordnet ihren Beruf nicht ausüben.

      Auf das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) komme ich im nächsten Kapitel gesondert zu sprechen

      Es wird deutlich: Die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung schränken verschiedene Grundrechte der Bevölkerung entscheidend ein. Dies ist jedoch nicht per se gleichbedeutend damit, dass diese Drangsalierungen verfassungsinkonform wären. Denn im Zusammenhang mit den Corona-Regeln ist das Infektionsschutzgesetz von Bedeutung, das ausdrücklich die Einschränkungen von Grundrechten erlaubt. I

      In § 28 (1) steht zu lesen: Behörden in Deutschland dürfen Notwendiges tun, soweit und solange es dabei hilft, die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern.

      Dann nämlich, und so kommen wir zum dritten Aspekt der Verhältnismäßigkeit, können temporäre Grundrechtseinschränkungen durchaus verfassungskonform sein.

      Denn die Einschränkungen in der Corona-Krise sollen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.2(2) GG) schützen (62).

      Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Corona-Regeln hat viel damit zu tun, ob die Beschränkungen als ausgewogen, als gerecht empfunden werden.

      Manche Lockdown-Maßnahmen scheinen widersinnig, unlogisch und letztlich nicht wirklich fair, wie der folgende Fragenkatalog zeigt:

      Warum müssen Tattoo- und Massage-Studios schließen, während Friseure weiter öffnen dürfen?

      Warum dürfen Gottesdienste stattfinden, aber Lesungen nicht?

      Warum darf man sich einen Film nicht im Kino (mit Abstand zueinander) ansehen, wohl aber die DVD aus der Bibliothek holen?

      Warum dürfen Restaurants Speisen außer Haus verkaufen, alkoholische Getränke wie Cocktails aber eher nicht?

      Warum dürfen größere und mittlere Wirtschaftsunternehmen ihr Geschäft weiterführen, während Solo-Selbstständige aus dem Kulturbereich durch die aktuellen Regeln keine Chance dazu haben?

      Warum dürfen sich mancherorts ein oder zwei Menschen nicht auf einer Parkbank ausruhen? Warum dürfen sie nicht auf der Grünfläche eines Parks in gebührendem Abstand zu anderen in der Sonne sitzen?

      Warum sollten sich Menschen nicht in Restaurants, in einer Bar, in einer Kirche, Synagoge, Moschee oder sogar in einem Kino treffen und vergnügen können, wenn zwischen Stühlen, Tischen und Sitzreihen genügend Raum bleibt und ein geordneter Einlass und Ausgang möglich ist?

      Warum wird jede touristische Beherbergung untersagt, während »notwendige Auswärtsübernachtungen erlaubt bleiben.

      Warum müssen Restaurants, Kinos, Theater schließen, während