Sie die Frau?“
„Nicht persönlich. Wenn ich mit der Staatsanwaltschaft zu tun habe, wende ich mich direkt an Doktor Beilinger. Ich werde mich weiter um einen Termin bei Frau Enzinger bemühen. Wenn ich der Frau auf die Nerven gehe, macht sie vielleicht Druck.“
Ursulas Entführer waren nach einer schier endlos langen Fahrt offenbar an ihrem Ziel angekommen, denn der Wagen stoppte und sie hörte zwei Türen zuknallen. Dann wurde eine Tür geöffnet. Die frische Luft strömte bis zu ihr. Ursulas Glieder schmerzten und sie war am Ende. Endlich wurde ihr die Augenbinde abgenommen, als einer der Männer sie unsanft aus dem Wagen zerrte. Ihre Augen reagierten empfindlich auf den Sonnenaufgang. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und sich jedes noch so kleine Detail merken. Die Männer trugen abermals Masken, unterschieden sich aber in Statur und Körperhaltung. Der eine war ziemlich groß und hielt sich aufrecht, der andere war klein und leger, auch die Kleidung. Den Lieferwagen sah sie nur aus dem Augenwinkel. Er war dunkel, ein neueres Modell. Mehr konnte sie nicht erkennen. Der kleinere Mann packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie wurde in ein Haus gebracht, das sie noch niemals vorher gesehen hatte. Es ähnelte einem Bauernhaus, zumindest war vor dem Haus eine Art Trog und ein verwilderter Gemüsegarten, der mit einem defekten Holzzaun umgeben war. Sie befand sich auf dem Land, um sie herum waren nur Felder und Wiesen. Die Gegend sagte ihr nichts. Das waren zu wenige Informationen. Sie drehte den Kopf und wollte das Nummernschild des Wagens lesen, wurde aber von dem zweiten Mann daran gehindert.
„Vergiss es“, zischte der, gab ihr einen heftigen Stoß und versperrte ihr die Sicht.
„Musst du so grob sein?“, murmelte der andere, der das Verhalten völlig überzogen fand. Ursula verlor das Gleichgewicht und er konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie vorn über gefallen.
„Halts Maul, das geht dich nichts an“, erwiderte der andere.
Das Zimmer, in das Ursula gebracht wurde, war schlicht und einfach eingerichtet. Sie fuhr mit dem Finger über den Tisch, den eine dicke Staubschicht bedeckte. Sie sah den größeren der beiden Männer an, der nicht darauf reagierte. Die Tür wurde geschlossen. Noch bevor sie sich umsehen konnte, ging die Tür wieder auf. Der Größere, vermutlich der Anführer, warf einen Schlafsack auf das Bett und zwei Handtücher auf den Tisch. Dann ging er wieder.
Jetzt war sie allein. Sie öffnete das kleine Fenster und sog die frische Luft tief ein. Ursula hatte freie Sicht auf ein Kornfeld, das sich leicht im Wind hin und her bewegte. Das Wetter würde heute nach zwei Regentagen wieder phantastisch werden, aber das tröstete sie nicht im Geringsten über ihre momentane Situation hinweg. Sie war völlig durcheinander und musste sich sammeln. Das Bett mit der schmutzigen Matratze sah zwar nicht sehr einladend aus, aber in ihrer jetzigen Situation mutete es himmlisch an. Der Schlafsack war neu, daran hing noch das Preisschild eines Ulmer Sportgeschäftes. Knapp hundert Euro hatte der Schlafsack gekostet. Ursula war erstaunt, dass man hier nicht gespart hatte. Sie öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und breitete ihn auf der Matratze aus. Eines der Handtücher rollte sie zusammen, das musste als Kopfkissen reichen. Sie musste dringend aus den Schuhen raus, in denen sie schon viel zu lange steckte. Durch einen Unfall war sie auf orthopädische Schuhe angewiesen, in denen ihre Füße festen Halt fanden. Der kurze Moment der Erleichterung, als ihre Füße endlich frei waren, war rasch verflogen. Die Tür ging auf und einer ihrer Bewacher, der große, brachte Wasser, Brot und Käse, wobei er immer noch eine Maske trug. Wortlos stellte er das Tablett auf den kleinen Tisch am Fenster. Das war der, der sie geschubst hatte, er war ganz sicher der Anführer. Vor ihm musste sie sich in Acht nehmen.
„Ich muss auf die Toilette“, murrte sie, wobei sie sich zwingen musste, nicht auf das Tablett zu starren. Sie hatte keinen Hunger, aber großen Durst.
Der Mann deutete stumm auf die Tür neben dem Schrank und ging wieder. Ursula hörte den Schlüssel im Schloss. Sie stand auf und ging zu der ihr gezeigten Tür, vielleicht gab es aus diesem Raum eine Möglichkeit zu fliehen. Aber sie wurde enttäuscht. Der fensterlose Raum war sehr klein und beinhaltete nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Sie ging zurück, trank gierig fast die halbe Flasche Wasser und legte sich aufs Bett. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Was sollte das alles?
3.
Nach einem knappen Mittagessen hielt es Leo nicht länger in Christines Haus aus, er musste dringend an die frische Luft. Zeitler, Anna und Stefan waren längst bei der Arbeit, er hatte die Prüfung der Unterlagen irgendwann allein übernommen. Es gab darin nicht den kleinsten Hinweis, der ihn weiterbrachte. Nicht nur die Konzentration, sondern auch das nervöse Geplapper seiner Freundin ging ihm auf die Nerven.
„Wo willst du hin?“
„Ich sehe mir die Stelle an, an der Ursula nach Stefans Angaben verschwunden sein soll.“
„Warte auf mich, ich komme mit.“
„Nein, ich gehe allein.“
Christine schimpfte und jammerte, aber Leo wollte unbedingt alleine sein. Er musste seine Gedanken ordnen, denn es war ihm ein Rätsel, was letzte Nacht mit Ursula passiert sein mochte.
Die Fahrt durch Ulm bei strahlend schönem Wetter konnte Leo nicht genießen, das sonst wehmütige Gefühl blieb heute aus. Der Verkehr war dicht, trotzdem stellte Leo seinen Wagen auf der Neuen Straße einfach am rechten Fahrbahnrand ab, auch wenn das nicht erlaubt war. Einige Autofahrer hupten und regten sich darüber auf. Auch, als er ausstieg und langsam die Straße entlangging. Er konnte nicht wissen, dass nur wenige Meter von seinem Wagen entfernt in der vergangenen Nacht Ursulas Wagen ebenfalls hier stand, der jetzt in einer Garage mitten in Ulm untergebracht war. Da der Verkehr sehr dicht war, musste Leo höllisch aufpassen. Dass sich immer mehr Verkehrsteilnehmer über ihn aufregten, interessierte ihn nicht. Er ging auf und ab und suchte nach dem kleinsten Hinweis, auf das, was letzte Nacht hier geschehen sein könnte. Wie lange er sich hier aufhielt, wusste er nicht, die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann rief ihm ein alter Mann von der gegenüberliegenden Seite etwas zu, was Leo nicht verstand. Das war kein Passant, der sich über ihn ärgerte. Der Mann winkte und gestikulierte, was Leo dazu veranlasste, die Straße zu überqueren, was abermals von Verkehrsteilnehmern mit Unverständnis, wilder Gestik und Hupen quittiert wurde. Der alte Mann hatte Leo lange beobachtet, was diesem aber nicht aufgefallen war.
„Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?“
Der Mann vor Leo war weit über sechzig und ging am Stock. Er hatte ein helles Hemd an und trug eine Baskenmütze, was zu der kleinen, untersetzten Figur sehr gut passte.
„Es könnte sein, dass ich etwas suche. Ich interessiere mich für Geschehnisse der letzten Nacht.“ Leo sah den Mann an. So, wie dieser reagierte, war er bei ihm genau richtig.
Der alte Mann zögerte. Sollte er ihm wirklich sagen, was er heute Nacht beobachtet hatte? Leo zog seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Mann vor.
„Kriminalpolizei?“
Leo nickte nur und steckte seinen Ausweis rasch wieder ein. Dass darauf nicht Ulm, sondern Mühldorf am Inn stand, hatte der Mann zum Glück nicht bemerkt.
„Ich wohne dort hinten in dem gelben Haus. Meine Wohnung liegt im vierten Stock links. Nachts kann ich nicht schlafen, die Schmerzen in der Hüfte sind oft kaum auszuhalten“, schrie er, denn ein lauter LKW machte eine Unterhaltung auf normalem Niveau schier unmöglich.
Leo wurde hellhörig. Hatte er richtig verstanden?
„Sie haben heute Nacht etwas beobachtet?“
„Ja.“ Der alte Mann schien erleichtert, denn das, was er gesehen hatte, ließ ihm keine Ruhe.
„Unterhalten wir uns irgendwo in Ruhe.“
„Dort hinten, gleich ums Eck, ist ein Café.“
„Gehen wir.“
„Was ist mit Ihrem Wagen? Der darf dort nicht stehen.“
„Das weiß ich. Gehen wir.“
In dem Café war nicht