Bettina Reiter

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes


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ohnehin krümelte, weil es staubtrocken war. „Brandon hätte sich eine attraktive Frau gewünscht“, ließ sie das Gespräch Revue passieren. „Sexy und verführerisch. Stattdessen hat er Restware bekommen.“

      „Brandon hat von Anfang an ein falsches Spiel getrieben“, ließ Linda kein gutes Haar an ihm und innerlich rupfte Emma munter mit, was das Croissant zu spüren bekam. „Wenigstens ist er zum ersten Mal ehrlich gewesen. Allerdings hat er dich nicht im Mindesten verdient, weil Liebe nicht dort aufhört, wo Aussehen und Geld anfangen. Nimm zum Beispiel diesen fremden Typen. Er hat dich geküsst und das bestimmt nicht aus Jux und Tollerei. Es liegt auf der Hand, dass du ihn beeindruckt hast.“

      Abrupt verschonte Emma das wehrlose Croissant, fuhr sich durch das offene Haar und schaute an sich herunter. Sie trug immer noch die ausgewaschene Jeans und den weiten grauen Pullover. Der Wintermantel aus grauer Vorzeit hing in Lindas Garderobe, bei der sie um fünf Uhr auf der Matte gestanden hatte. Heulend. „Im Schönreden bist du auch nicht ohne“, meinte Emma und lächelte, was Linda strahlend erwiderte. Eine bessere Freundin als sie gab es nicht. Ohne zu zögern hatte Linda ihr Obdach gegeben, sie in eine warme Decke gehüllt, heiße Schokolade gemacht und nach der ausgiebigen Heul-Arie ein üppiges Frühstück gezaubert. Seit einer Stunde saßen sie nun hier. „Ich habe dich und Grant echt scheiße behandelt“, entschuldigte sich Emma und nahm Lindas Hand, wobei sie darauf achtete, nicht die Nägel zu berühren.

      „Das ist längst vergessen.“ Ein sanfter Druck folgte. „War ja auch hart, was ich dir vor die Füße geknallt habe. Allerdings kann ich mich mit dem Ausgang des Abends sehr gut anfreunden. Noch dazu hast du eine Flasche Sekt getrunken. Da fragt man sich schon: Wer bist du und was hast du mit meiner Freundin getan?“

      Emma zog grinsend ihre Hand zurück. „Du tust gerade so, als wäre ich eine Heilige.“

      „Na, na, wir wollen nicht übertreiben. Allerdings auch nicht untertreiben.“ Linda schaute auf ihre silberne Armbanduhr. „Ich muss allmählich los. Soll ich dich in die Stadt mitnehmen? Dein Dienst beginnt ja ebenfalls gleich.“

      „Schon okay“, sagte Emma. „Ich werde mich krankmelden.“ Zwar fühlte sie sich körperlich fit - weil der erwartete Brummschädel ausblieb - trotzdem brauchte sie Zeit für sich. „Ich denke, nach allem was geschehen ist, kann ich ruhig einen Tag blaumachen. Und da mir Tiff sicher keinen Urlaubstag gewährt, muss ich eben zu dieser List greifen.“

      Anerkennend pfiff Linda durch die strahlend weißen Zähne. „Das aus dem Mund der Frau, die freie Tage und Urlaube bisher für Gerüchte hielt. Ich finde es toll, dass du einige Dinge in deinem Leben änderst.“

      „Eine Krankmeldung ist keine große Veränderung.“

      „In deinem Fall schon.“ Linda zupfte mit Blick in den Spiegel an ein paar Haarsträhnen herum. „Tiff wird im Dreieck springen. Wie bedauerlich, dass ich das nicht live sehen kann! Deine Schwester war früher übrigens auch eine Schnecke, wegen dem Schleim und so.“ Kurz lachte Linda auf, bevor sich neuerlich ein verträumter Ausdruck in ihr Gesicht schlich. „Was für ein Jammer, dass ich diesen Typen nie kennenlernen werde. Er scheint einiges bei dir bewirkt zu haben.“

      „Wie kommst du darauf, dass der Fremde irgendeinen Einfluss auf mein Leben hätte?“

      „Keine Ahnung, immerhin hast du ihn geküsst.“

      „Er hat mich geküsst.“ Emmas Puls beschleunigte sich.

      „Wie auch immer, es kam zu einem Kuss. Dabei geht dir nichts über Treue. Geschweige denn, dass jeder Verehrer wochenlang warten musste, bis du dich küssen lassen hast.“

      „Brandon hat mit seiner Affäre unsere Ehe beendet. Demnach war ich bei dem Kuss frei wie ein Vogel“, fühlte sich Emma dazu genötigt, sich zu verteidigen. „Aber bin ich wirklich so … so …“ Sie suchte nach dem passenden Wort. „Spießig? Langweilig?“

      „Ein romantischer Spaziergang“, Linda schien plötzlich in anderen Sphären zu schweben, „ein Dinner bei der Imbissbude … Schneegestöber … sogar vor Brandon nahm er dich in Schutz. Ich sage nur: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, hauchte sie den Titel ihres gemeinsamen Weihnachts-Lieblingsfilms, den sie sich seit über zehn Jahren inklusive Grant bei Linda anschauten.

      „Der Unbekannte ist kein Prinz und ich nicht das Aschenputtel“, saugte Emma jegliche Romantik aus ihrer Unterhaltung. So gradlinig Linda ansonsten war, bei der Liebe setzte regelmäßig ihr Verstand aus.

      „Nein, das bist du nicht“, wurde ihre Freundin ernst. „Aber du verhüllst dich, wie du ständig deine Gefühle versteckst. Im Glauben, dass du dieses oder jenes nicht verdienen würdest. Und klar, du hast keine böse Stiefmutter, trotzdem führst du ein ähnliches Schattendasein wie unser allseits geschätztes Aschenputtel. Von der Arbeit ganz zu schweigen, die Tiff dir aufs Auge drückt. Du schuftest tausendmal härter als sie und kriegst einen Hungerlohn. Wie ihr Gehalt aussieht, will ich mir gar nicht vorstellen. Dabei bist du das Zugpferd der Konditorei. Deine Eclairs sind der Hammer und zählen zu Londons Geheimtipp.“

      „Jetzt übertreib mal nicht“, wurde Emma verlegen.

      „Siehst du?“ Strafend blickte Linda sie an. „Du kannst nicht einmal Komplimente annehmen. Dabei stimmt es. Nicht umsonst nennt man dich die Zauberin der Carnaby Street.“

      Natürlich war Emma diese Bezeichnung zu Ohren gekommen und insgeheim schmeichelte sie ihr sehr. Ein schöner Lohn für die harte Arbeit, das ständige Weiterbilden und die Kreativität, fortwährend neue Backrezepte aus dem Hut zu zaubern. „Ich wünschte, Dad könnte das genauso sehen“, beklagte sich Emma, die sich voller Bitterkeit fragte, wie ihr Vater wohl auf die Trennung von Brandon reagieren würde. Vermutlich mit dem Satz, dass er ohnehin immer gewusst hatte, dass diese Ehe nicht lange halten würde. „Genug lamentiert. Jetzt rufe ich im Geschäft an, bevor ich mir einen Anwalt suche.“

      „Lieber eine Anwältin“, riet Linda, als sie sich erhob. Der edle Stoff ihres schwarzen Hosenanzuges glänzte im Schein des Tageslichtes, das durch die Panoramafenster fiel. „Frauen kämpfen mit härteren Bandagen, weil sie solidarisch mit uns sind. Also, Süße, mach es dir gemütlich. Du kannst so lange bleiben wie du willst. Wir sehen uns abends.“

      Fünf Minuten später war Emma alleine im erlesen eingerichteten Appartement. Linda war Produkt-Managerin und verdiente gut, weswegen sie sich sowohl die Lage an der Themse als auch teure Möbel leisten konnte. Beruflich hatte ihre Freundin alles erreicht, privat fiel das Resümee leider traurig aus. Seit über sechs Jahren war sie Single nach einer überaus glücklichen Ehe, die der Tod von einer Sekunde auf die andere beendet hatte. Ihr Mann Willy starb bei einer Rafting-Tour. Er hatte die Strömung unterschätzt. Es dauerte lange, bis Linda über diesen unfassbaren Schicksalsschlag hinwegkam. Sofern sie das je schaffen würde.

      Seufzend erhob sich Emma und räumte den Tisch ab. Nachdem sie die Küche sauber gemacht hatte, wählte sie die offizielle Geschäftsnummer. Wie erhofft hob eine der Servicekräfte ab, die förmlich nach Luft schnappte, als sich Emma krankmeldete. Tiff würde tatsächlich toben, das war so sicher wie das Amen im Gebet. Allerdings öffnete es ihrer Schwester vielleicht die Augen darüber, was sie Tag für Tag leistete.

      Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte Emma in die Jogginghose und das weiße T-Shirt. Linda hatte ihr beides auf die Waschmaschine gelegt. Nach einem kurzen Blick in den beleuchteten Spiegel ging sie ins Wohnzimmer zurück, griff zum Handy und googelte nach einer Anwältin. Eine stach ihr sofort ins Auge: Ruth Hart-Divorce. Ein ziemlich vielversprechender Name. Hastig speicherte sie Namen und Nummer in ihr Handy ein und starrte anschließend auf die Zahlen.

      Das war es also mit ihrer Ehe. Vorerst auch mit den Plänen, Kinder zu haben. Eine Familie zu gründen. Nichts hatte sie sich in den letzten Jahren sehnlicher gewünscht. Leider hatte es nicht geklappt - wobei das aufgrund des mangelnden Sexes kein Wunder war. Auf der anderen Seite musste sie nach dem Fiasko mit Brandon froh darüber sein. Bei einer Scheidung wären Kinder die Leidtragenden und so gesehen hatte es das Schicksal schon richtiggemacht. Ihre Zeit würde kommen. Irgendwann. Denn noch hatte sie den Glauben an die wahre Liebe nicht verloren. Vielleicht wäre es so, wenn der Fremde