Bettina Reiter

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes


Скачать книгу

konnte sich an ihn kuscheln, wenn sie sich in den Schlaf weinte und ihm alles erzählen. Bis er eines Tages aufgeschnitten auf dem Bett lag. Angeblich wollte Tiff wissen, womit er gefüllt war. Leider konnte ihr Lieblingsbär nicht mehr gerettet werden, womit sie ihren größten Halt verloren hatte. „Du musst mir nichts schenken.“

      „Ich will es aber. Obwohl du immerzu dasselbe bekommst: ein Buch.“

      Emma lächelte. „Das stimmt nicht ganz. Jedes Buch ist anders.“

      „Wie wahr.“ Camilla lehnte sich zurück und überkreuzte die Beine. Ihr sanft gewelltes Haar leuchtete regelrecht in der Sonne. Seltsam, dass eine Frau wie sie alleinstehend war. Emmas Tante erklärte es regelmäßig damit, dass sie in jungen Jahren keine Fesseln wollte und nunmehr zu alt dafür sei, um Männern ihrer Generation Tabletten in den Mund zu stopfen, zum nächsten Orthopäden zu fahren oder sich um sonstige Wehwehchen zu kümmern. Jüngere seien nicht viel besser, die Camilla gern mit ihrem Hund Barbados verglich. Zu halbstark, zu kostenintensiv, zu oft müsse man mit ihnen vor die Tür. „Und was hast du jetzt vor? Bleibst du im Haus oder wollt ihr es verkaufen?“

      „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mrs. Porter, aber ich habe die Tasche gefunden.“ Die junge Frau vom Erdgeschoss kam mit einer schwarzen City-Bag auf sie zugeeilt. „Sie lag unter dem Waschbecken auf der Toilette.“

      „Wunderbar. Vielen Dank.“ Camilla nahm die Tasche entgegen und stellte sie neben sich auf den Boden. Die Frau eilte wieder davon. „Jedenfalls, lass dich von der Sache mit Brandon nicht unterkriegen.“

      „Ich glaube, unsere Ehe war schon lange vorbei“, bekannte Emma. „Nur wollte ich es nicht wahrhaben, denn ich bin ein Gewohnheitstier. Obwohl ich mich natürlich hintergangen fühle. Das tut weh. Doch meine Tränen sind getrocknet und eigentlich sollte es anders sein.“

      „Hinterfrag das nicht. Sei lieber froh darüber.“

      „Das bin ich.“ Komisch. Es fühlte sich mit jeder Stunde mehr an, als würde sich ein riesiger Stein von Emmas Brust lösen. „Meine Eltern werden aus allen Wolken fallen.“

      „Und wenn schon. Sie führen ihr Leben, du das Deine. Habt ihr übermorgen wieder das traditionelle Weihnachtsessen? Falls ja, serviere ihnen die Neuigkeit zum Nachttisch. Ehe Claire und Ben sie verdaut haben, machst du die Biege.“

      „Warum soll ich es ihnen überhaupt auf die Nase binden? Irgendwann werden sie es schon erfahren“, entgegnete Emma. „Außerdem geht der Kelch gottlob an mir vorbei. Mom und Dad wollen über Weihnachten in die Karibik. Das Essen ist abgesagt.“

      Camilla tätschelte ihre Hand. „Und bis sie wiederkommen, ist Gras über die Sache gewachsen.“ Sie deutete auf die Tasche. „Die gehört übrigens deiner Mom.“

      „Mutter war hier?“

      „Wir hatten eine Vormittags-Lesung. Dornenvögel. Du weißt ja, wie sehr Claire die Geschichte liebt.“ Das wusste Emma in der Tat. Wie oft ihre Mom darin gelesen hatte, konnte sie nicht sagen und auch die Verfilmung schaute sie sich mindestens zweimal im Jahr an. Der einzige Anlass, bei dem Emma sie jemals weinen sah. „Oh, da vorne ist eine wichtige Kundin. Ich muss kurz zu ihr und bin gleich zurück.“ Als Camilla aufstand, warf sie die Tasche um. Ein Buch rutschte heraus, der Schlüssel, ein Kamm und anderer Kleinkram. „Bist du so lieb?“, bat ihre Tante, bevor sie der Frau im wollweißen Cape entgegenrauschte.

      Emma bückte sich, stellte die Tasche auf und griff nach dem nur allzu bekannten Buch. Auch sie hatte Dornenvögel gelesen und musste zugeben, dass die große Liebe zwischen Meggie und Pater Ralph sehr zu Herzen ging. Vermutlich trug die Mutter den Roman aufgrund der Lesung mit sich herum. Allerdings hatte Emma das Lesezeichen nie gesehen, das herausragte. Es schillerte türkis. Wie ein glasklares Meer. Neugierig zog Emma es heraus. St. Agnes stand in großen Lettern auf der Vorderseite. Handschriftlich war in der unteren Ecke eine Telefonnummer vermerkt. Die geschwungene Schrift stammte allerdings nicht von ihrer Mutter.

      Emma drehte das Lesezeichen um. Als sie die wenigen Sätze las, begann ihr Herz zu rasen. Gleichzeitig trocknete ihr Mund aus, während es fieberhaft in ihr arbeitete …

Grafik 29

      „Bist du sicher, dass die Summe stimmt?“ Roger starrte auf die Unterlagen, die ihm Larissa soeben gebracht hatte.

      „Wir haben alles geprüft. Der finanzielle Rahmen ist ausgeschöpft. Doris schreibt laufend rote Zahlen und überzieht ständig ihren Dispo. Leider sind in den letzten Monaten kaum Einkünfte eingegangen. Auch die Einnahmen ihres kleinen Handwerksladens fehlen, seitdem der Mieter gekündigt hat.“

      „Über kurz oder lang wird sie bestimmt jemanden finden. Mehr Sorgen mache ich mir wegen der Pension. Sie wirft kaum einen Cent ab. Dabei redet Doris ständig davon, dass sie ausgebucht ist und sich allmählich eine Aushilfe nehmen sollte.“

      Die vollbusige blonde Bankangestellte spielte mit dem obersten Knopf ihrer schwarz gepunkteten Seidenbluse. „Kann es sein, dass du ihr nicht zugehört hast? So, wie du das bei keiner Frau tust?“

      Rogers Laune sank noch mehr als ohnehin.

      Leider hatte er nicht nur Touristinnen abgeschleppt, sondern sogar aus der Bank die eine oder andere mit nach Hause genommen. Ein fataler Fehler, der ihm nun nachhing. „Du bist ein nettes Mädchen, Larissa, und hast einen guten Kerl verdient.“ Zu seinem Unglück verband sie mit ihrer ersten gemeinsamen Nacht mehr als ihm lieb sein konnte und lief ihm seit Monaten nach. Während seiner Trinkerei griff er dummerweise des Öfteren auf sie zurück, sofern er keine andere bei der Hand gehabt hatte. Damit schürte er ihre Hoffnung natürlich, dass sich etwas Festes daraus entwickeln könnte. „Ich bin nicht der Richtige für dich, denn ich werde mich in mancher Hinsicht nie ändern. Vor allem was Frauen betrifft. Allerdings sage ich ab jetzt von vornherein, dass ich keine Beziehung will. Das habe ich in der Vergangenheit nicht getan und es war nicht fair. Vor allem Frauen wie dir gegenüber.“

      „Liebe kann wachsen“, blieb sie eisern und setzte ein seliges Lächeln auf.

      „Das wird nicht passieren.“ Roger erhob sich und schob die Papiere zusammen. „Für eine Beziehung bin ich nicht gemacht. Frag meine Verflossenen.“ Er hörte, wie hart sie schluckte und blickte hoch. „Du bist fünfundzwanzig, hübsch und intelligent, Larissa. Vergeude nicht deine Zeit mit mir und bitte lass uns den Umgang zukünftig auf das Geschäftliche beschränken.“

      Plötzlich schimmerten Tränen in ihren braunen Augen, die etwas heller waren als Emmas. „Alle Welt hat mich vor dir gewarnt“, wütete sie mit bebender Brust. „Du bist tatsächlich ein arroganter selbstverliebter Schnösel und es stimmt: Einer, der seine Frau kurz nach der Hochzeit betrügt und sein Kind im Stich lässt, ist nicht einmal den Dreck unter den Schuhen wert. Du kannst mich mal!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro mit lautem Türknallen.

      Roger sank auf seinen Stuhl zurück.

      Larissas Szene war vorhersehbar. Trotzdem regte es ihn auf. Vor allem, weil er das selbst verbockt hatte! Hinzu kam die Pleite mit Trish. Im ganzen Dorf wurde hinter seinem Rücken gemauschelt. Ehebrecher! Schäbiger Vater! Betrüger … dabei wusste niemand, was Trish ihm zugemutet hatte!

      Schon vor der Hochzeit hatte man ihm gesteckt, dass die Gute nicht von ihm schwanger wäre. Er hielt es für Blödsinn, bis zu seinem Junggesellenabschied. Erneut wurde er mit den Gerüchten konfrontiert. Vermutlich hatte er kalte Füße bekommen und Annie deswegen angemacht. Oder er wollte sich unbedingt etwas beweisen. Vom Alkoholpegel ganz zu schweigen. Doch das Misstrauen trug Früchte. Zwei Tage vor der Trauung hatte er Trish zur Rede gestellt. Sie stritt alles ab und er glaubte ihr nur zu gern. Bis an ihrem Hochzeitstag die Wehen einsetzten. Sie mussten die Feier unterbrechen, worüber Trish mehr als erbost gewesen war. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurde sie vollends hysterisch. Als sie erneut stritten, knallte sie ihm die ganze Wahrheit ins Gesicht. Wer immer der Vater des Babys war, Roger kam nicht infrage und würde Trishs Kaltschnäuzigkeit nie vergessen.

      Deshalb suchte er das Weite, sobald sie im Krankenhaus versorgt war. Für